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Woher kommt das Licht, das uns das Sehen ermöglicht? Eine einfache Frage, die aber tief in das Mysterium der Seele und alles Seienden führt. Um das Licht zu sehen, sagt Pir Zia Inayat Khan in diesem Vortrag, müssen wir lernen, anders zu schauen,

Eine Sufi-Unterweisung

Vielleicht kennen Sie die Geschichte der Kindheit des Propheten Abraham: Wie seine Geburt vorhergesehen wurde von einem Wahrsager am Hofe des tyrannischen Königs, der damals herrschte. Wie der Wahrsager dem König erzählte, dass, vom Schicksal bestimmt, einer geboren werden würde, der Throne stürzen würde, und wie der König den Befehl gab, dass alle männlichen Kinder abgeschlachtet werden sollten. Abrahams Mutter zog sich in die Wüste zurück und gebar ihren Sohn in einer Höhle. Sie musste ihn verlassen und in die Stadt zurückkehren.

Woher kommt das Licht?

So wuchs Abraham alleine in der Wildnis auf, mit den Tieren der Wüste als Spielkameraden und den Kräutern der Wüste als Nahrung. Ihm wurde keine Religion beigebracht. Er musste Verehrung selbst entdecken. Und das kam so:

Eines Nachts schaute er in den Himmel und sah den Abendstern, der funkelte. Sein Herz war bewegt, er wurde von Ehrfurcht erfüllt und ein Gefühl von Verehrung stieg in ihm auf. Doch dann bewegte sich eine Wolke am Himmel und  plötzlich wurde der Mond enthüllt: der Vollmond, diese blendend weiße Scheibe. Der Abendstern kam ihm jetzt ziemlich klein und unbedeutend vor, und sein ganzes Herz erhob sich, um den Vollmond zu grüßen, der ihm der schönste und  Ehrfurcht gebietendste Anblick zu sein schien, den er je gesehen hatte. Er verbrachte die Nacht in Huldigung. Aber nach einer Weile passierte etwas…

Der Nachthimmel verblasste und am östlichen Horizont stieg eine brennende Flamme empor, die Sonne. Im Vergleich zu dieser Flamme war der Mond nur ein Gespenst. Die Strahlen der Sonne füllten den Himmel und erwärmten die Landschaft, und sofort spürte Abraham: „Dir gebührt alle Verehrung!“ Als die Sonne höher stieg, wurde sie zu grell zum Anschauen, aber Abraham nahm das Sonnenlicht durch alle Poren seiner Haut in sich auf, während sie ihren Weg den Himmel entlang zog.

Das Licht der Lichter

Aber am Ende des Tages begann die Sonne unterzugehen und ihr Licht verblasste, als sie hinter dem westlichen Horizont verschwand. Abrahams Glaube war erschüttert. Er schloss seine Augen…

…und bemerkte, dass er selbst mit geschlossenen Augen Licht sah. Er sah, dass seine Sicht selbst Licht war; dass sein Bewusstsein reines Licht war. Und dass dies ein Anteil von einem größeren Licht war, einem Licht, das nicht auf- und unterging; einem Licht ohne Grenzen, ohne Anfang, ohne Ende. Alle Sterne, die er sah, wurden von diesem einen immerwährenden Licht entfacht, dem Nur al-Anwar, diesem Licht der Lichter, das die Schöpfung mit seiner Herrlichkeit anfüllt.

Er sah, dass es schlussendlich in der Welt nicht viele Dinge gibt. Es gibt nur Licht, Wellen über Wellen von Licht, und alle diese Wellen sind nur Reflektionen des einen einfachen, reinen Lichts. Dieses Licht, das die Existenz selber ist. Als Abraham das erkannte, wurde er ein hanif, einer der an die Einheit glaubt. Und aus seiner Nachkommenschaft entstanden drei große prophetische Linien.

Eine Flut von Erleuchtung

Manifestation ist Schwingung und Erleuchtung. Durch unsere Ohren nehmen wir Schwingung wahr, durch unsere Augen, Erleuchtung. Wenn wir uns umschauen, denken wir, dass wir Dinge sehen. Aber ein Ding ist nicht sichtbar. Nur Licht ist sichtbar. Was wir sehen, sind Wellen des Lichts. Diese Halle ist von Lichtwellen durchflutet. Ein Großteil davon fließt direkt aus dem Körper der Sonne, ergießt sich über unseren Planeten, vermischt sich mit den herabfallenden Strahlen unzähliger Sterne und badet die Erde in einer strahlenden Lichtflut.

Diese Sintflut von Erleuchtung, die von Oberflächen reflektiert auf unsere Netzhaut stößt und in den Sehnerv eindringt, erhellt das Gehirn. Unsere Körper sind geschmiedet aus Elementen, die in den Schmelzöfen der Sterne geschaffen wurden, und unsere Augen sind Sterneninstrumente, um Licht zu empfangen und weiterzuleiten.

Merkwürdigerweise ignorieren wir das Phänomen des Lichtes, indem wir Formen beschreiben, Konturen skizzieren, wenn wir nur die Dinge betrachten, anstatt das Licht selbst. Um Licht zu sehen, muss man lernen, anders zu schauen.  Statt auf die Dinge zu schauen, zwischen die Objekte zu schauen, in den Raum dazwischen.

Wir stellen uns vor, dieser Raum sei leer, aber in diesem Raum werden Sie, wenn Sie hinschauen, Licht sehen. Dieser Raum ist durchscheinend, er ist leuchtend. Das Sehen selbst leuchtet. Schließen Sie Ihre Augen und es wird weiter  leuchten. Gehen Sie tief unter die Erde und schließen Sie hundert Türen hinter sich, und was werden Sie sehen? Werden Sie Dunkelheit sehen? Nein, Sie werden Licht sehen, Sie werden nie Dunkelheit sehen, haben sie niemals gesehen und werden sie niemals sehen, denn das Sehen selbst ist leuchtend. Bewusstsein ist reines Licht.

Übung: das Licht des Sehens

Lassen Sie uns unseren Atem mit unserem Blick koordinieren. Beim Einatmen ziehen Sie das Licht der Atmosphäre durch Ihre Augen, pausieren und spüren das Licht, das in Ihre Augen gedrungen ist, wie es das Gehirn durchflutet und es  erleuchtet. Und beim Ausatmen spüren Sie, wie das Licht durch Ihre beiden Augen ausströmt. Jetzt fahren Sie fort und schließen beim Einatmen die Augen, mit geschlossenen Augen halten Sie den Atem an, und dann beim Ausatmen  öffnen Sie die Augen und seien Sie sich dieser zwei Strahlen bewusst, die durch Ihre beiden Augen scheinen und die in der Ferne wie ein Scheinwerfer zusammenkommen.

Wir arbeiten mit dem aktiven Aspekt des Blickes. Der Blick ist nicht nur passiv. Er ist ein Kanal für das Licht der Seele.

Während Sie den Atem anhalten, drückt das Licht, das das Gehirn erleuchtet, dem Scheitelpunkt entgegen, so wie eine sprudelnde Fontäne aufsteigt. Und wenn Sie beim Ausatmen die Augen öffnen, beleuchtet der herabfallende Glanz der  Fontäne, durch Ihren Blick hindurch, den Raum vor Ihnen.

Und während Sie fortfahren, schließen Sie die Augen, heben Ihre Hände und legen die Fingerspitzen ganz sanft auf Ihre Augenlider, ganz leicht ohne Druck, und halten Sie den Atem an, und dann wenn Sie ausatmen, senken Sie die Hände  und öffnen die Augen. Legen Sie die Hände wieder ab, halten die Augen geschlossen beim Einatmen, Anhalten und Ausatmen. Ziehen Sie das Licht hinein beim Einatmen, lassen es Ihr Gehirn durchfluten und bis hinauf zum Scheitelpunkt sprudeln beim Anhalten, und drehen Sie die Augäpfel, mit weiterhin geschlossenen Augen, nach oben und hinten. Beim Ausatmen senden Sie das Licht, statt in den Raum vor sich, nach oben und in Ihr Inneres zurück. Die Fontäne steigt  mit jedem Ausatmen höher und höher. Kehren Sie nun zu einer natürlichen Atmung zurück und bleiben Sie dabei auf die höheren Frequenzen des Lichtes eingestimmt, die oberhalb des Scheitelpunktes erstrahlen.

Wir sind Lichtwesen

Was auch immer Sie für Gedanken oder Gefühle hervorbringen möchten, gestalten Sie sie im Licht. Seien Sie sich bewusst, dass Sie ein Lichtwesen sind, umgeben von leuchtenden Wesen, die Lichtstrahlen austauschend durch Farbe und  Schwingung kommunizieren. Wenn Ihr Bewusstsein sich ändert, erhellt oder verdunkelt sich Ihre Aura. In ihr erscheint eine Eingebung wie eine Flamme und die Liebe als ein hell brennendes Feuer.

Wenn der Körper wieder in seine elementaren Bestandteile zerfällt, bleibt dieses Licht des Bewusstseins bestehen. Es wird überleben und fortbestehen, während es die verschiedenen Ebenen des Daseins durchläuft, bis es endlich in dem  einen ewigen Licht resorbiert wird, dem Licht der Lichter. Es wird nicht vernichtet, es geht nicht verloren, sondern wird mit seiner leuchtenden Quelle vereint sein.

Das Licht unserer Seele ist ein Strahl der immerwährenden Sonne, eine Fortsetzung des göttlichen Blicks. Im heiligen Qur’an heißt es, dass Blicke Ihn nicht erreichen können, aber Er erreicht die Blicke. Gottes eigene Sicht reicht durch Ihre Augen. Und alles was Sie sehen – nicht Sie sind es, der/die da sieht, sondern es ist der/die Seher/in. Sie und ich sind nicht die Seher, der Seher ist immer das Eine.

So wie Brillengläser den Augen helfen, und die Augen dem Gehirn helfen, so hilft das Gehirn dem Herzen. Und das Herz hilft dem Einen zu sehen. Wir sind Linsen für die göttliche Sicht. Man erinnert sich daran, indem man, egal was man erblickt, immer weiß: Nicht ich bin es, der/die sieht, sondern DU bist es, DER/DIE durch mich sieht. Dann ist Ihre Sicht nicht getrübt, sondern klar.

Nun erinnern wir uns an diese Wahrheit, indem wir den Sehenden anrufen: Wir atmen in Stille Allah/Gott ein und atmen Allah Basir/Gott den Sehenden aus. Zuerst still ausatmen, einatmen, Allah Basir. Wenn Sie bereit sind, öffnen Sie die Augen, so dass der Sehende und das Gesehene eine Realität sind. Wo immer Sie sich hinwenden, da ist das Antlitz Gottes.
Pir Zia Inayat Khan

Auszug aus einem Vortrag von Pir Zia Inayat Khan beim Osterseminar 2012 in Gersfeld, Deutschland. Übersetzung & Redaktion: Michelle Beittel & Kerstin Streuff

Pir Zia Inayat Khan ist Sufi-Lehrer in der Linie seines Großvaters, Hazrat Inayat Khan, und ist Autor mehrerer Werke über Sufismus und Mystik. Er ist Präsident des Internationalen Sufi-Ordens und Gründer der Suluk- Akademie, einer Schule der Kontemplation mit Zweigen in den USA und Europa. Er ist auch Gründer von Seven Pillars House of Wisdom, einem Institut für Interspiritualität. Er lebt mit seiner Familie im US-Bundesstaat New York. Website: www.pirzia.org
Weitere Info: www.sufiorden.de

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