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uns und die Welt transformieren

Steve Taylor fordert unsere radikale Umkehr zur Einfachheit

Ist es möglich, die rastlose Gier nach immer mehr zu stoppen und ein Leben im Einklang mit der Natur zu führen? In seinem aktuellen Buch „Verrückte Welt“ beleuchtet der Psychologe Steve Taylor die „Humanie“ – unsere alltägliche Verrücktheit – und Wege zur Heilung und Harmonie.

Carl Gustav Jung traf 1932 in New Mexico auf den Indianerhäuptling Mountain Lake. Als Jung ihn nach seiner Meinung über die Europäer fragte, die sein Land erobert hatten, war seine Einschätzung vernichtend: „Die Weißen wollen immer etwas. Sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir denken, dass sie verrückt sind.“

Unsere psychologische Störung

Warum können wir nicht in Einklang miteinander, mit der Natur oder zumindest mit uns selbst leben? Warum liest sich die Geschichte der Menschheit wie eine endlose, enttäuschende Saga von Krieg, Konflikt und Unterdrückung? Was treibt uns an, unsere Umwelt und damit uns selbst als Spezies zu zerstören? Oder, auf einer psychologischen Ebene, warum leiden wir ununterbrochen unter der Rastlosigkeit und dem Unbehagen, von dem Mountain Lake sprach? Was  bringt viele von uns dazu, immer größere Berge an Vermögen, Status und Erfolg anzuhäufen, ohne einen Beweis dafür, dass diese uns zufrieden und glücklich machen? Warum empfinden wir, wenn wir unsere Ziele erst einmal erreicht  haben, nur für so kurze Zeit Genugtuung, um dann doch wieder rastlos nach noch größeren Zielen zu streben?

Unser Grundproblem, so behaupte ich, besteht darin, dass mit unserem Geist tatsächlich etwas nicht stimmt. Wir leiden an einer grundlegenden psychologischen Störung, die unser dysfunktionales Verhalten erzeugt, und zwar sowohl als Individuen als auch als Spezies. Wir sind alle leicht irre – aber weil dieser Irrsinn ein uns wesenhafter ist, bemerken wir ihn nicht. Ich nenne diese Störung „Humanie“. (Manchmal bezeichne ich sie aber auch als „Ego-Verrücktheit“, weil es sich um das Ergebnis einer Fehlfunktion und einer Fehlentwicklung des Egos handelt. Mit Ego meine ich unser Gefühl, ein „Ich“ in einer eigenen geistigen Sphäre zu sein, das „Selbst-System“, das uns das Gefühl vermittelt, als Individuum zu existieren, mit eigenen Gedanken und Erfahrungen.)

Die erste der edlen Wahrheiten des Buddhismus lautet, dass „Leben Leid bedeutet“ – und das Leid beginnt in unserem Geist. Dieses innere Leiden – oder diese psychologische Zerrissenheit, wie ich sie nenne – ist für uns so normal geworden, dass wir es nicht einmal mehr bemerken, so wie ein Hintergrundgeräusch, an das wir uns so gewöhnt haben, dass wir es nicht mehr wahrnehmen. Und doch hat es massive Auswirkungen. Es bedeutet, dass wir unsere  Aufmerksamkeit beständig auf unsere Außenwelt richten und unser Leben permanent mit Aktivitäten und Ablenkungen vollstopfen müssen, wie Süchtige, die immer neue Dosen einer Droge brauchen. Es verhindert, dass wir zufrieden  sind, und stiftet Zwietracht in unseren Beziehungen. Es treibt uns an, Erfüllung und Wohlbefinden außerhalb von uns selbst zu suchen, in Reichtum, Erfolg und Macht. Es ist sogar verantwortlich für die Konflikte, die Unterdrückung und Brutalität, an denen die Geschichte der Menschheit so reich ist.

In Harmonie sein

Doch trotz dieser zerstörerischen Auswirkungen ist die Humanie weder tief in uns verwurzelt noch unauflösbar. Sie existiert tatsächlich nur in einer Oberflächenschicht unseres Geistes. Wir alle kennen die Augenblicke, in denen unsere  gewöhnliche psychologische Zerrissenheit verblasst und wir plötzlich ein Gefühl der Einfachheit, des Wohlbefindens und der Harmonie spüren. In solchen Augenblicken sind wir von dem Druck befreit, ständig beschäftigt zu sein, von dem Bedürfnis, stimuliert zu werden oder Besitz anzuhäufen – wir ruhen in uns und im gegenwärtigen Augenblick.

Diese Augenblicke des „harmonischen Seins“ – wie ich sie nenne – ereignen sich gewöhnlich, wenn wir uns ruhig und entspannt fühlen und wenn uns Stille umgibt, beispielsweise wenn wir durch die Natur wandern, uns in aller Ruhe  handwerklich betätigen, Musik hören oder machen, nach einer Meditation, nach Yoga oder nach dem Sex. Das Geschwätz in unserem Geist, das uns unentwegt umgibt, verstummt. Jetzt fühlen wir uns nicht länger abgetrennt, sondern mit uns selbst, unserer Umgebung oder unseren Mitmenschen in einem natürlichen Fluss verbunden. In solchen Augenblicken werden wir – zumindest für eine kurze Zeit – geistig gesund.

Diese Harmonie und Gesundheit tragen wir jedoch immerzu in uns, in der gleichen Weise, wie der große, stille Ozean beständig unter dem lauten Toben der Wogen ruht. Das Problem liegt darin, dass uns die oberflächliche Zerrissenheit unseres Geistes den Zugang dazu verstellt. Statt in uns zu gehen und die Harmonie unseres essenziellen Wesens zu erfahren, werden wir aus uns herausgezwungen, hinein in Ablenkungen und Aktivitäten. Wir sind nicht imstande, im  gegenwärtigen Augenblick zu leben, unfähig zufrieden zu sein.

Die Humanie läuft auf globales Chaos und Zerstörung hinaus. Seitdem sie zum ersten Mal auftauchte, steuert die Menschheit auf eine Katastrophe zu. Tatsächlich ist diese Katastrophe bereits in vollem Gange: immer mehr Naturkatastrophen, die durch Umweltveränderungen verursacht werden, immer knappere Wasserreserven, das Aussterben von Millionen Spezies und dazu noch die unerklärliche Gleichgültigkeit gegenüber unserem Dilemma, ja sogar die Leugnung seines Vorhandenseins. Wie sollte es auch anders sein? Eine irre Spezies kann nicht auf Dauer auf einem zerbrechlichen Planeten existieren, der nur ein begrenztes Aufnahmevermögen besitzt. Milliarden Menschen mit ihren unersättlichen Wünschen und einer unbegrenzten Kapazität für Kriege und Brutalität – und ohne jedes Gefühl der Zusammengehörigkeit mit dem Netzwerk der Natur, mit dem sie untrennbar verbunden sind – sind sozusagen auf Selbstzerstörung programmiert. Eine Spezies, die sich selbst nicht erträgt, muss sich einfach zerstören.

Die Humanie transzendieren

Unsere einzige wirkliche Hoffnung, als Spezies zu überleben, besteht daher darin, die Humanie zu transzendieren. Dies bedeutet im Umkehrschluss, auch das pathologische Verhalten zu transzendieren, welches von der Humanie verursacht wird. Solange wir an Ego-Abtrennung und kognitiver Zerrissenheit leiden, werden diese Pathologien immer existieren, auch wenn wir sie bis zu einem gewissen Grade kontrollieren oder lindern können. Es wird immer Kriege geben, Ungleichheit, Unterdrückung und Umweltzerstörung. Es wird immer dogmatische Religionen geben und immer eine ethnische oder religiöse Gruppe, die sich scharf abgrenzt und die anderen bekämpft. Letztendlich entstammt alle  Zwietracht in der Welt unserer inneren Zerrissenheit.

Die menschliche Gesellschaft spiegelt zum größten Teil nur die menschliche Natur wider. Und wir sollten daran denken, dass diese nicht starr und für immer festgelegt ist. Wir sollten nicht länger glauben – wie viele Neodarwinisten und  evolutionäre Psychologen –, dass wir alle nur als Sklaven unserer Verhaltensmuster handeln, die wir von unseren Vorfahren in der afrikanischen Savanne, die vor Hunderttausenden von Jahren lebten, ererbt haben. Gehirn und Psyche lassen sich formen. Wir können uns bewusst bemühen, sie zu verändern.

Sobald wir begonnen haben, die Humanie als Individuen zu transzendieren, erleichtern wir anderen, dasselbe zu tun. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat in manchen Teilen der Welt – etwa in Westeuropa – eine  stetige Abnahme der sozialen Identität und des „Anderssein“ stattgefunden. Das erklärt auch, warum viele europäische Staaten seit 70 Jahren keine Kriege mehr gegeneinander geführt haben. Darüber hinaus scheint sich ein zunehmendes Gefühl der Empathie  entwickelt zu haben, das zu wachsendem Respekt vor den Rechten anderer und einer besseren Behandlung von Gruppierungen geführt hat, die früher ausgegrenzt und brutal behandelt worden sind, so wie Schwule, Behinderte oder  ethnische Minderheiten. (Das reicht mit Blick auf die zunehmende Empathie für Tiere sogar über die Grenzen unserer Spezies hinaus und beschert den Anhängern einer vegetarischen Lebensweise oder der Tierrechtsbewegung stetigen  Zulauf.) In Gestalt der Ökobewegung hat es sogar eine Initiative gegeben, die eine neue Verbindung zur Natur suchte und damit einhergehend einen neuen Respekt für die Kulturen und die Weisheit der indigenen Völker. Ebenso  bedeutsam ist, dass in diesem Zusammenhang auch eine neue Welle des Interesses an Selbstverwirklichung und Spiritualität aufgekommen ist.

Eine neue Welt

All diese Entwicklungen zeigen eine Bewegung, die über die Abtrennung und den Egoismus der Humanie hinausgeht. Sie zeigen, dass die Dynamik des kollektiven psychologischen Wandels – einer Transzendierung der Ego-Verrücktheit –  zunimmt. Vielleicht gelangen wir an den Punkt, an dem die kritische Schwelle erreicht ist und die psychologische „Form“ der Humanie einfach verschwindet, sodass Sie nicht mehr zu unserem „normalen“ Zustand wird, wenn wir erwachsen werden.

Mit jedem Schritt, den Sie über die Ego-Verrücktheit hinaus unternehmen, können Sie zur Erschaffung einer neuen Welt beitragen. Sie können dazu beitragen, die dunklen Schatten zu verscheuchen, die seit Tausenden von Jahren über der  menschlichen Psyche hängen, und einen neuen Geist der kollektiven Harmonie ins Leben zu rufen.

Letztendlich können wir die Konflikte in der Welt nur dadurch transzendieren, dass wir unser eigenes Wesen heilen. Wir schaffen nur dann Frieden in der Welt, wenn in uns selbst Frieden herrscht. Wie der Lakota-Indianer Black Elk erklärte: „Der erste Friede, welcher der wichtigste ist, ist der, welcher in die Seelen der Menschen einzieht, wenn sie ihre Verbundenheit, ihr Einssein mit dem Universum und all seinen Kräften begreifen und wissen, dass im Mittelpunkt  des Universums der Große Geist lebt und dass dieser Mittelpunkt in Wirklichkeit überall ist, in uns allen.“

Transzendieren wir die Humanie, ist das Leben nicht mehr schmerzvoll und unbefriedigend, sondern wird zu einem großen Abenteuer voller Freude und Wunder. Nach Jahren der Unvollständigkeit werden wir endlich ganz. Nach Jahren  des Schlafes erwachen wir. Nach Jahren der Flucht vor der Gegenwart, vor der Welt und uns selbst ruhen wir nun behaglich in ihnen.

Nach Tausenden von Jahren der Furcht und Verwirrung, in denen wir wie Flüchtlinge durch eine feindliche Welt irrten, kommen wir endlich nach Hause.

(aus: Steve Taylor: Verrückte Welt, J. Kamphausen)

Steve Taylor, PhD, arbeitet als Dozent an der Leeds Metropolitan University in Großbritannien, wo er Psychologie und Soziologie lehrt. Er hat mehrere Bestseller über Spiritualität und Psychologie geschrieben. Bei einer kürzlich erfolgten Umfrage des Magazins Mind, Body, Spirit wurde Steve Taylor auf Rang 31 der spirituell einflussreichsten lebenden Menschen der Welt gewählt. Er veranstaltet regelmäßig Vorträge und lebt mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern  in Manchester.

www.stevenmtaylor.co.uk

Steve Taylor

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