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Gewaltlosigkeit

Friedfertigkeit und Demut vor den Wundern der Schöpfung gehören zu den tragenden Säulen des spirituellen Lebens. Sie entspringen der Überzeugung, dass sich in jedem das Göttliche manifestiert.

Gewaltlosigkeit

Das Gebot der Gewaltlosigkeit oder des Nicht-Verletzens wird meist als eine soziale Verhaltensregel aufgefasst. Aber Gewaltlosigkeit ist darüber hinaus ein wichtiger Bestandteil der Spiritualität. Die Mystiker und spirituellen Lehrer haben immer schon betont: „Wenn du mit Gott verbunden sein willst, dann verletze niemandes Gefühle.“ Denn Gewalt besteht nicht nur darin, dass man jemanden physisch verletzt oder ihm etwas antut, sondern auch darin, dass man die Gefühle von anderen verletzt. Gewalt bezieht auch ein, dass man andere dazu zwingt oder veranlasst, gegen die spirituellen Gesetze zu verstoßen, indem sie einem anderen Lebewesen Schmerz zufügen oder es töten. Nehmen wir zum Beispiel an, ich möchte Lederschuhe tragen und bringe dadurch jemanden dazu, ein Tier zu töten, damit mein Konsumwunsch erfüllt wird, so wäre ich als Urheber beteiligt an dieser Gewalt.

Wenn wir außerdem irgendwelche Lehren verbreiten, die in anderen Menschen Gefühle der Aggression und Gewalt auslösen, so fällt auch das unter den Begriff Gewalt. Denn als Seelen haben wir alle einen gemeinsamen Ursprung in Gott, auf der spirituellen Ebene sind wir alle Geschwister. Aus diesem Grund ist alles, was in uns oder anderen böswillige und aggressive Gefühle gegenüber anderen Mitgeschöpfen hervorruft, hinderlich für unsere spirituelle Entwicklung und Annäherung an Gott.

 Eine universelle Regel
Von Anbeginn der Schöpfung an war den Menschen aufgetragen, Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit zu üben. Alle heiligen Schriften messen ihr große Bedeutung bei, aber im Laufe der Zeit hat man die Schriften widersprüchlich ausgelegt und falsch verstanden. Das geschah schon mit den Veden, der ältesten heiligen Schrift der Welt. Obwohl in den Veden steht, dass es für die spirituelle Vervollkommnung sogar Gewaltlosigkeit in Gedanken braucht, wurden dennoch mit der Zeit Tieropfer eingeführt.

Da mussten zwei bedeutende religiöse Lehrer kommen, um die alte Lehre der Gewaltlosigkeit wieder aufzufrischen: Gautama Buddha und Mahavira Swami, die beide das Wissen davon wiederbelebten, dass ohne Gewaltlosigkeit der spirituelle Pfad nicht gegangen werden kann. Beide betonten, dass Gewaltlosigkeit der wahre Pfad zum Höheren Selbst sei. Aber wir stellen heute fest, dass sogar in ihrem Namen Gewalt eingeführt wurde und man dies mit entsprechenden Interpretationen rechtfertigt.

Manche sagen, es stelle keine Gewaltanwendung dar, wenn man ein Tier nicht selbst töte, um es zu essen. Und so kam es, dass viele, die sich Buddhisten nennen, Fleisch essen. Ähnliches gilt in Bezug auf das Essen von Eiern: Man unterscheidet zwischen befruchteten und unbefruchteten Eiern und findet so einen Weg, diese als Nahrung zu sich zu nehmen. Es geht aber nicht nur darum, ob das Ei befruchtet ist oder nicht und ob wir anderen Lebewesen Gewalt antun, indem wir sie essen; sondern es geht auch darum, dass die Speisen, die wir zu uns nehmen, sich auf unsere Stimmung auswirken und damit unser Verhalten im Umgang mit anderen zum Positiven oder Negativen hin beeinflussen. Jeder kann es an sich selbst feststellen: Unser Essen kann uns glücklich und friedlich stimmen, oder aber gereizt und unruhig.

Unkenntnis über die Seele
Nun müssen wir uns fragen, wie die Praxis der Gewaltlosigkeit uns auf dem spirituellen Pfad zur Selbst- und Gotterkenntnis unterstützt. Nur wenn wir uns echt darum bemühen, nicht die Gefühle anderer zu verletzen, wenn wir uns darum bemühen, mit ihnen freundlich und liebevoll umzugehen, werden wir diesem Ziel näherkommen. Es geht um die grundlegende Erkenntnis, dass Gott gegenwärtig ist in jedem Menschen – in mir selbst wie in jedem anderen – und dass wir, wenn wir die Gefühle anderer verletzen, in Wirklichkeit Gott diese Verletzung zufügen.

Warum aber verletzen wir weiterhin im Alltag andere Menschen und Mitgeschöpfe und tun ihnen unmittelbar oder mittelbar Gewalt an, obwohl wir verstanden haben, dass das unsere spirituelle Entwicklung blockiert? Es liegt zunächst daran, dass wir die wahre Natur der Seele nicht wirklich erkannt und begriffen haben.

Selbst wenn wir die spirituellen Schriften, die Sutras, die Bhagavad Gita und die Bibel studieren und lernen, dass die Seele zum Beispiel ewig lebt, nicht geboren wird und nie stirbt oder dass sie an sich vollkommen in Gott ist oder dass sie voller Seligkeit ist oder dass der Körper ihr für eine bestimmte Frist als Wirkungsstätte überlassen ist, so ist dieses „Wissen“ bloß angelesen. Solange wir es nicht überprüft und nicht selbst erlebt haben, beruht solches Wissen ausschließlich auf Annahmen und Glauben. Nur die eigene Erfahrung wird uns von der Richtigkeit solcher Aussagen über die Seele überzeugen und erst die eigene Erkenntnis hält uns davon ab, andere Menschen und Lebewesen zu verletzen.

Das Experiment der Meditation
Sie und ich, wir haben einen menschlichen Körper. Davon sagen wir: „Dies ist mein Körper.“ Ähnlich sagen wir von einer Jacke, die wir ausziehen und irgendwo hinlegen können: „Dies ist meine Jacke.“ Und da wir von „meinem Körper“ genauso reden wie von „meiner Jacke“, sollten wir nachforschen, was es ist, das hier von „mein“ spricht, und ob dieses Ich auch den Körper so ablegen kann, wie es in der Lage ist, die Jacke auszuziehen. Dieses Ich, das so spricht, ist die Seele in unserem Körper.

Als erstes müssen wir also unsere Seele vom Körper lösen, damit wir sie als vom Körper unabhängiges, bewusstes Wesen erkennen können. Das geschieht, indem wir das Bewusstsein am Dritten Auge hinter der Stirn sammeln und von den Körperwahrnehmungen und Gedanken abziehen. Dieser Vorgang ist in den Grundzügen der gleiche wie beim Sterben, mit dem Unterschied, dass die Seele beim „Tod vor dem Tod“ sich nur vorübergehend vom Körper trennt und dann wieder in den Körper zurückkehrt. Dies ist die wahre Bedeutung des mystischen Ausspruchs: „Lerne zu sterben, bevor du stirbst.“

Wenn wir also von Selbsterkenntnis sprechen, geht es um diesen Prozess, bei dem wir die Seele, unser Bewusstsein, vom Körper zurückziehen. In dem Augenblick, wo wir selbst erleben, dass die Seele etwas vom Körper Getrenntes ist, werden wir beginnen, für das Wohlergehen unserer Seele zu arbeiten.

Selbsterkenntnis ist also der erste Teil, und dann müssen wir uns als nächstes davon überzeugen, dass Gott tatsächlich in unserem eigenen Körper gegenwärtig ist. Wenn wir dies einmal erfahren haben, fällt es uns leicht zu glauben, dass Gott auch in jedem anderen Menschen zugegen ist. Wenn wir Gott aber nicht einmal in uns selbst erfahren haben, wie können wir dann glauben, dass Er auch in allen anderen Geschöpfen wirkt?

 Gott zeigt sich selbst
Wie können wir nun Gott begegnen oder wahrnehmen? Denn es heißt ja, dass Gott gestaltlos ist. Zugleich bezeugen die heiligen Schriften und Berichte von Mystikern, dass Gott sich in verschiedenen Formen manifestiert und dass Er sich so der im Dritten Auge gesammelten Seele zu erkennen gibt. Da sind zunächst die göttlichen Lichtformen zu nennen, Gott kann sich aber auch in Form von Klang, Duft oder Glückseligkeit für die Seele wahrnehmbar machen. Nur weil Gott sich der Seele selbst offenbart und sich ihr mitteilt, ist es überhaupt möglich, Ihn als in uns existent zu erfahren.

Um diese Erfahrung von Gott im Zustand der Meditation zu machen, brauchen wir die zuverlässige Anleitung und Hilfe von jemandem, der selbst diese Praxis vollständig beherrscht, der sich mit Gott verbunden hat und in der Lage ist, uns zu führen. Nur jemand, der selbst mit Gott verbunden ist, kann auch anderen diese Verbindung ermöglichen. Dasselbe drückte Jesus Christus aus, als er sagte: Wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in die Grube fallen (Matth. 15, 14).

 Sanft und achtsam leben
Auf dieser Basis von Selbst- und Gotterkenntnis wird es erst möglich, sanft und gewaltlos auf Erden zu leben. Wir können auch in hektischen oder konfliktbefrachteten Situationen friedfertig und achtsam bleiben, und zwar nachhaltig, da wir restlos überzeugt sind von der Gegenwart Gottes in uns selbst und in unseren Mitmenschen. Es entsteht auf natürliche Weise ein tiefer Respekt vor allem was lebt – vor der ganzen Schöpfung. Und aus diesem Respekt heraus können wir sanft, behutsam und liebevoll miteinander umgehen.

Soami Divyanand (1932-2014), Meister des Surat-Shabd-Yoga, lehrte mehr als 35 Jahre lang den Pfad des inneren Lichtes und Klangs. Veden-Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher.

 BUCHTIPP
Soami Divyanand: Spirituelle Unterweisungen (Sandila)

Soami Divyanand

FOTO: Thinkstock

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