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Vorurteile

Gibt es „objektive“ Kriterien für einen „guten“ Glauben oder für „wahre“ Religion? Kaum etwas verhärtet die Herzen so sehr wie Vorurteile. Erst höhere Erkenntnis befreit den Menschen von dieser Last.

Es gibt auf Erden kaum etwas, das nicht mit Vorurteilen und vorgefassten Meinungen behaftet ist. In jedem Lebensbereich begegnen wir Vorurteilen, in besonderem Ausmaß jedoch in Zusammenhang mit Religion. Sie sind der Grund für Ablehnung und führen oft zu Meinungsverschiedenheiten, die nicht selten gewaltsam eskalieren. Deshalb ist es sinnvoll, sie sich vor Augen zu führen und über Wege zu reflektieren, wie wir Vorurteile auflösen können.

Kirchen, Synagogen und Moscheen

Ein besonders augenfälliges Vorurteil rankt sich um die Stätten der Andacht. Die einen nennen diese Stätten Tempel, andere bezeichnen sie als Kirche, für wieder andere sind sie Moscheen oder Synagogen. Die Vorurteile gegen die Andachtsstätten anderer Religionen sitzen so tief, dass man fixe Vorstellungen davon hat, wie eine Kirche oder Moschee oder ein Tempel auszusehen hat, um ja nicht den Andachtsstätten einer anderen Religion zu ähneln. Kirchen, Tempel, Moscheen sind Orte, wo Gott angebet wird. Dorthin gehen wir, um zu Gott zu beten. Der Hindu glaubt, er könne Gott nicht in einer Kirche anbeten; der Muslim hält es für unmöglich, dafür in einen Tempel zu gehen, und der Christ kann sich nicht vorstellen, in einer Moschee zu Gott zu beten. Zwar sind alle der Überzeugung, dass Gott in diesen Stätten lebt und wirkt, aber sie verstehen nicht, dass es ein und derselbe Gott ist, der dort gegenwärtig ist, und so können sie sich nicht dazu durchringen, miteinander in einer dieser Andachtsstätten zu demselben Gott zu beten.

Zuweilen sind die Vorurteile diesbezüglich so stark, dass sich religiöse Fanatiker zu Anschlägen und zerstörerischen Übergriffen auf umstrittene Kirchen, Moscheen, Synagogen und Tempel hinreißen lassen. Mancherorts will man am liebsten eine Moschee abreißen und durch einen Tempel ersetzen – oder umgekehrt. So hat z. B. 1992 der Konf likt um die Babri-Moschee im indischen Ayodhya zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen geführt, bei denen inzwischen Tausende von Menschen ums Leben gekommen sind. Dabei ist der menschliche Körper der eigentliche Tempel. Wie widersinnig ist es doch, den von Gott geschaffenen Tempel wegen eines von Menschenhand errichteten Tempels zu vernichten!

Das „richtige“ Gebet

Eine zweite Art von religiösem Vorurteil betrifft die Art und Weise, wie man zu Gott betet. Viele Glaubensgemeinschaften haben ihre eigene, ganz besondere Art und Weise, zu Gott zu beten. Sie beten nur auf diese Art und Weise und lehnen die Gebetsweise jeder anderen Glaubensgemeinschaft ab. So hat jede Glaubensgemeinschaft besondere rituelle Regeln für das Verhalten am Ort der Andacht aufgestellt. Und jede ist darauf bedacht, sich im äußeren Verhalten von allen anderen Gemeinschaften abzusetzen – und sei es wider die Vernunft.

Betritt ein Mann eine Kirche, hat er den Hut abzunehmen. Betritt man einen Sikh-Tempel, so muss man den Kopf bedecken. Betritt man einen Hindu-Tempel, so hat man die Schuhe auszuziehen, aber in einer Kirche behält man die Schuhe an. Hindus waschen sich vor dem Beten die Hände in reichlich f ließendem Wasser, Muslime hingegen nur in einer spärlichen Menge Wasser – egal wo sie leben. Vielleicht müssen die in Arabien lebenden Menschen wegen der Wasserknappheit dort ihre Hände auf diese sparsame Weise waschen, aber warum muss ein Muslim in Indien oder Europa, wo es reichlich Wasser gibt, seine Hände genauso waschen? Vor lauter Beachtung der rituellen Vorschriften und Gepflogenheiten verliert man jedoch das Wesentliche aus den Augen. Eigentlich geht es darum, zu Gott zu beten, und nicht darum, an der richtigen Stelle aufzustehen, hinzuknien, sich zu verbeugen oder sich zu bekreuzen. Diese Fixierung auf rituelle Korrektheit führt dazu, dass die Anbetung in den Hintergrund gedrängt wird und dass man Misstrauen und aggressive Ablehnung gegenüber Menschen hegt, die auf andere Art beten.

Die einzig wahre Schrift

Eine dritte Art von Vorurteil ist die Ablehnung und Geringschätzung der heiligen Bücher anderer Glaubensgemeinschaften. Jede Glaubensgemeinschaft behauptet, dass ihr heiliges Buch vom göttlichen Geist herabgesandt und offenbart wurde. Aber darüber hinaus ist man davon überzeugt, das einzig wahre heilige Buch zu besitzen, die anderen Gemeinschaften befänden sich jedoch im Irrtum. Aber nicht nur die heiligen Schriften der anderen respektiert man nicht. Die vorgefassten Meinungen gehen so weit, dass man sogar Teile der eigenen heiligen Schrift ablehnt. Zum Beispiel wird nicht einmal die Bibel in ihrer Gesamtheit akzeptiert. Christen halten das Tenach (das von Christen sogenannte Alte Testament) für überholt und ungültig, und Juden lehnen das Neue Testament als ungültigen späteren Zusatz ab. Dabei sind diese Bücher zu einem Buch zusammengefasst worden, weil weise Menschen erkannt haben, dass beide ein und dieselbe Botschaft aus derselben göttlichen Quelle übermitteln.

Gott und Gottesbilder

Eine vierte Art von Vorurteil rankt sich um das zentrale Element der Religion: Gott. Als der Allumfassende und Allmächtige ist Gott nur einer, aber man trifft auf unzählige verschiedene Auffassungen von Gott. Jeder entwirft entsprechend seinem eigenen Verständnis seinen ganz persönlichen Gott und tut sich schwer, andere Auffassungen, die andere Wesenszüge Gottes in den Vordergrund stellen, gelten zu lassen. Zum Beispiel gibt es im Hinduismus zeitweise Rivalitäten zwischen Anhängern von Lord Rama

und Lord Krishna. Der heilige Tulsidas (1532–1623), der ein großer Verehrer von Lord Rama war, besuchte eines Tages einen Lord Krishna geweihten Tempel. Dort sagte er zu Lord Krishna, der immer mit einer Flöte in der Hand dargestellt wird: „Ich werde dich erst dann anbeten, wenn du diese Flöte weglegst und wie Lord Rama wirst.“

Wir hegen so viele vorgefasste Meinungen, dass wir uns Gott nach unseren eigenen Wünschen und Vorstellungen ausmalen, und dann halten wir so am eigenen Gottesbild fest, dass wir nichts anderes mehr akzeptieren können. Auf ähnliche Weise lehnen wir die Propheten und Gottmenschen der anderen Religionen ab und meinen, dass nur der Prophet der eigenen Religion die wahre, richtige Botschaft vermittelt hat. Das Ergebnis ist Hass, Gewalt, Ungerechtigkeit und Blutvergießen im Namen der Religion. Erst wenn der Friede auf diese Weise gefährdet ist, erkennen einige Menschen, dass sie sich ernsthaft bemühen müssen, diese Vorurteile auszuräumen, aber sie finden keinen Weg dahin.

Wenn die Menschen jedoch den Pfad des Yoga gehen, verschwinden diese Vorurteile ganz von selbst. Dazu müssen wir zunächst verstehen, was Yoga ist.

Yoga ist Einssein

Yoga besteht nicht darin, den Körper in eine bestimmte Position zu bringen und gymnastische Übungen zu machen. Yoga im ursprünglichen Sinn ist kein Fitness-Training, sondern ein Übungsweg zur spirituellen Verwirklichung. Das Sanskrit-Wort „yoga“ bedeutet „zusammenbinden, anjochen, vereinen“ und im spirituellen Kontext bezeichnet es die Vereinigung der Seele mit Gott: „atman paramatman yoga vaiyoga – Wenn die Seele (atman) mit Gott (paramatman, Überseele, Überselbst) vereint ist, ist das Yoga.“ Diese Verbindung der individuellen Seele mit Gott wird in der Meditation eingeübt. Durch die praktischen Erfahrungen, die man mit Gott in der Meditation macht, lösen sich fehlerhafte Vorstellungen, Missverständnisse und Vorurteile von alleine auf.

Diese Zusammenhänge erklärte ich einmal dem New Yorker Radio- Moderator Lex Hixon im Interview. Er äußerte die Vorbehalte von christlichen Amerikanern gegen die Yoga-Meditation: Man wolle nur Jesus Christus nachfolgen und befürchte, zum Hinduismus bekehrt zu werden. Als ich ihm davon berichtete, dass einige Menschen, die unter meiner Anleitung meditierten, auch Jesus Christus in der Vision gesehen hatten, verstand er, dass es sich um denselben Weg handelt und kein Unterschied zu ihrer Religion bestand und solche Vorbehalte unbegründet sind.

Unwissenheit beheben

Auch wenn wir ständig den Menschen predigten, dass jeder gottverwirklichte Meister ein und dasselbe lehrt und dass sie alle in Gott eins sind, wird das nichts bewirken. Erst wenn man dies selbst aufgrund einer Erfahrung mit Gott in der Meditation als wahr erkennt, fallen die Vorurteile gegen andere Religionen, gegen deren Gottmenschen und heilige Schriften dahin. Als ich noch Mitglied im Arya Samaj war, wurde dort dauernd die Bibel heruntergemacht. „Was ist schon die Bibel! Das ist nur die Geschichte von einem Hirten und seinen Schafen“, bekam ich dort zu hören. Aber wenn ich irgendwelche heiligen Schriften durchgehe – sei es die Bibel, das Dhammapada, den Koran oder die Veden –, stelle ich immer wieder fest, dass sie dieselbe göttliche Wegweisung überliefern.

Zuweilen sind wir aufgrund unserer Herkunft, Bildung oder unseres Besitzes so von Ego und Stolz erfüllt, dass wir uns für besser als andere halten und ihnen mit Vorurteilen begegnen. Ich erinnere mich an einen Mann, der als Straßenkehrer zur Kaste der Dalits (Unberührbare) gehörte und zu meinem Meister kam. Jedes Mal, wenn er zum Satsang ging und sich zwischen die anderen Zuhörer setzte, rückten alle von ihm ab, um ja nicht mit ihm in Berührung zu kommen. Eines Tages erhob er sich nach dem Satsang und fragte den Meister: „Alle diese Leute wissen, dass ich ein Unberührbarer bin, und versuchen deshalb den Kontakt mit mir zu meiden. Aber du, Meister, du schläfst jede Nacht bei mir in meinem Bett. Weißt du denn nicht, dass ich ein Unberührbarer bin?“ Der Meister antwortete: „Diese Leute wissen nicht, was du bist, dass Gott in jedem Menschen wohnt und dass niemand unberührbar ist.“

In der Yoga-Meditation, in der Begegnung der Seele mit Gott, gewinnen wir viele Erkenntnisse und wissen, dass Gott in jedem Menschen und an jedem Ort präsent ist. Nur solche spirituellen Erfahrungen, die aus der göttlichen Quelle stammen, haben die Kraft, unsere Vorurteile zu eliminieren.

Soami Divyanand

FOTO: Thinkstock

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