
Das Sterben als notwendige menschliche Erfahrung anzuerkennen, ist Voraussetzung für ein sinnerfülltes und glückliches Dasein.
Das ist eine spirituelle Aufgabe, die uns lebenslang begleitet und herausfordert. Loslassen zu lernen, die vielen kleinen Tode zu sterben, ist eine Kunst, die es schon während des Lebens einzuüben gilt.
Unsere körperliche Konstitution beginnt sich schon in jungen Jahren oft unmerklich abzunutzen. Beispielsweise vermindert sich bereits ab dem 30. Lebensjahr die Herzleistung, ab 40 verlieren die Muskeln an Masse, ab 50 schwindet die Dichtigkeit der Knochen, ab 60 fehlt im Schnitt ein Drittel der Zähne und so weiter.
Den eigenen Lebensrhythmus anpassen Mit fortschreitendem Alter werden wir auch krankheitsanfälliger, unsicherer und vergesslicher. Diese Prozesse nicht als Makel, sondern als zum Leben selbst gehörig anzuerkennen und ihnen mit Gelassenheit und Selbstmitgefühl zu begegnen, ist die eigentliche Herausforderung. Odo Marquard rät uns in dem Büchlein „Endlichkeitsphilosophisches“, nicht das Rad der Zeit durch senilen Ehrgeiz zurückdrehen zu wollen, sondern allmählich dem „Dasist-so“ gegenüber dem „So-sollte-es-sein“ einen Vorrang einzuräumen. Wenn wir diesen Einschränkungen mit einer Portion Humor und Selbstironie begegnen, können wir uns getrost der Wirklichkeit stellen und uns gleichzeitig erlauben, uns selbst unterbieten zu dürfen. Dies bewahrt uns auch vor Überforderungsstress, der aus der Fehleinschätzung des eigenen Leistungsvermögens und illusionären Zukunftserwartungen resultiert.
Der enger werdende Zeithorizont im Alter lässt es ratsam erscheinen, den eigenen Lebensrhythmus entsprechend anzupassen. Einerseits ist es notwendig, einen Gang zurückzuschalten. Das bedeutet, nicht mehr alles erreichen zu wollen, was ich mir vielleicht noch vorgenommen habe. Andererseits aber auch gezielt und möglichst unverzüglich das noch anzupacken, was mir wirklich wichtig oder notwendig erscheint und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ein solches Umdenken tritt meist nicht von selbst ein, solange sich das Leben in gesicherten Bahnen bewegt. Angestoßen wird es in der Regel durch Krisen, Krankheiten oder einschneidende Ereignisse, wozu besonders die leibhaftige Erfahrung von Todesnähe zählt.
Erkenntnisse aus der Todesnähe
In den späten 1980er Jahren hat die Nahtodesforschung, auch ein bedeutender Zweig der Transpersonalen Psychologie, mit eindrucksvollen Aussagen Aufsehen erregt. Aufgrund von Interviews mit Personen, die klinisch tot waren und wieder ins Leben zurückgekehrt sind, haben u.a. Raimond Moody, Kenneth Ring und Elisabeth Kübler-Ross herausgefunden, dass deren Erfahrungsinhalte eine ähnliche Struktur aufwiesen. Menschen in Todesnähe, unterschiedlicher Herkunft und kulturellen Hintergrundes, erlebten eine oder mehrere der folgenden typischen Sequenzen:
- Sie sahen einen Tunnel bzw. eine dunkle Verengung, die sie passieren mussten.
- Am Ende des Tunnels kam es zu Lichtvisionen und euphorischem Gefühlserleben, auch zur Begegnung mit verstorbenen Verwandten, die auf sie zu warten schienen.
- Bedeutsame Stationen ihres Lebens liefen wie in einem Film vor ihren inneren Augen ab, begleitet von einer Neubewertung früherer Einstellungen und Handlungen, wobei liebevolles Tun mit angenehmen Gefühlen, destruktive Verhaltensweisen mit den Schmerz- und Trauerempfindungen der seinerzeit Betroffenen einhergingen.
- Sie erlebten sich insgesamt lebendiger, freudiger, friedvoller und verbundener als im gewöhnlichen Leben.
- Auch außerkörperliche Wahrnehmungsperspektiven wurden berichtet, wie etwa die Sicht von oben auf die Unfallstelle oder den Operationstisch mit der deutlichen Wahrnehmung dessen, was von dort Anwesenden gesprochen wurde.
Grundlegende Umorientierung
Nahtodeserfahrungen eignet eine außerordentliche Intensität des Erlebens sowohl von Glücks- als auch von Angstzuständen. Eine tiefgehende Befreiung von einengenden Wahrnehmungsgewohnheiten eröffnet nicht selten neue Wege der Sinnstiftung, die eine grundlegende Umorientierung der Lebensgestaltung ermöglichen. So fühlten sich etwa Suizidgefährdete in Folge der Nahtodeserfahrung für immer von ihrer selbstdestruktiven Neigung befreit, wie überhaupt sich das Leben von Menschen mit derartigen Erfahrungen danach oft tiefgreifend verändert hat, und zwar meist in Abkehr von einer egoistischen und materialistischen Grundeinstellung.
Bronnie Ware resümierte die markantesten Einsichten von Todgeweihten in ihrem Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“:
- Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie es andere von mir erwarteten.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
- Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden gehalten.
- Ich wünschte ich hätte mir mehr Freude gegönnt.
Wichtige Bewusstseinsprozesse
Sehr wertvolle Einsichten gewähren uns auch die Erfahrungsberichte von Sterbebegleitern, die vor allem die Bedeutung des Loslassens und Vertrauens für die Bewältigung der letzten Wegstrecke des Lebens thematisieren.
Monika Renz kommt in ihren Büchern „Zeugnisse Sterbender“ und „Von der Chance, wesentlich zu werden“ zu dem Schluss, dass sich im Spannungsfeld von „Festhaltenwollen und Loslassenmüssen, von Urangst und Urvertrauen“ wichtige Reifungsschritte vollziehen können. Es geht darum, loszulassen von allem, was wir haben und was wir zu sein glauben. Das ist jedoch nicht so einfach, denn im Angesicht des Todes, so Renz, wird man von dem eingeholt, wovor man im Leben davongelaufen ist.
Gleichzeitig werden, so fand sie weiter heraus, unbewusste Aspekte zu sichtbaren inneren Ereignissen. Es kann sein, dass verdrängte Wut oder Trauer durchbrechen und nicht bearbeitete Konflikte szenisch vor dem inneren Auge ablaufen. Die Sicherheit, die zuvor von materiellen Gütern und sozialem Prestige verbürgt schien, wird fragwürdig und bricht zusammen. Sie muss aufgegeben werden, denn sonst entstehen Verhärtungen, die in eine Verweigerung, in ein Nein dem Sterben gegenüber führen.
Dabei durchschreiten wir Gefühle übermächtiger Angst, grenzenloser Ohnmacht, radikaler Einsamkeit und verzweifelter Ausweglosigkeit. Dazu gehören Erfahrungen der Schwere, eines starken Drucks und des Verlustes der Fühlungnahme mit der physischen Welt. Es gibt kein Zurück mehr, die Entscheidungen sind uns aus der Hand genommen und wir sind den weiteren Abläufen hoffnungslos ausgeliefert. Der Prozess steuert auf einen Zustand der Unumkehrbarkeit und Endgültigkeit zu. Das Herz ist nicht mehr in der Lage, Blut bis in die Fingerspitzen und Zehen zu pumpen, denn dieses wird im Kernbereich des Körpers gebraucht. Die Füße werden kalt und der Atem verflacht. Wenn nun die letzten Lebensregungen zum Erliegen kommen und auch die Sinne mehr und mehr verdämmern, hat man nur noch eine Chance, nämlich Ja zu sagen. Ja zu sagen, zu dem, was geschieht und zu dem, der ich dann bin! Es ist wie ein letztes großes Ausatmen. Wenn wir weich werden und dem Prozess zustimmen, kann hinter der Verlust- und Vernichtungsangst das Tragende durchscheinen und Vertrauen in die Tiefe entstehen.
Wandlung und Reifung zulassen
Dies fällt natürlich leichter, wenn es gelingt, zuvor wichtige Aspekte des Lebens zu bereinigen oder zu integrieren. Gerne denke ich in diesem Zusammenhang an meinen Vater, den ich die letzten Wochenenden seines Lebens begleiten durfte. In berührenden Gesprächen blickte er nochmals auf sein Leben zurück, erlebte die eine oder andere Szene hautnah wieder und teilte mir sein Bedauern mit, dass er mich zeitlebens nicht richtig wahrgenommen habe.
Mutig lüftete er auch Familientabus und stellte sich seiner Verantwortung für Handlungen, die er im Nachhinein als Fehler sah. Die Konfrontation mit diesen Schattenaspekten löste innere Widerstände und entkrampfte die angespannte Situation. Sie vereinte alle Beteiligten in einer liebevollen und öffnenden Atmosphäre. In Todesnähe, wenn der Mensch noch Wandlung und Reifung zulassen kann, fügt sich die Gesamtsituation zu einem harmonischen Ganzen. Eine tiefere Wirklichkeitsebene wird spürbar, inneres Erleben und äußere Ereignisse ergänzen sich manchmal in sinnvoller Weise, so als geschähe ein Wunder.
Einen Tag, nachdem sein zweiter Urenkel geboren war und er ihn noch sehen konnte, verstarb er friedlich und mit einem Lächeln im Gesicht, obwohl er in der letzten Zeit noch intensive Schmerzzustände durchleiden musste.
Noch an der Schwelle zum Tod ist es möglich, mit sich und auch problematischen Lebensumständen ins Reine zu kommen, und sei es auch nur durch unscheinbare Zeichen des Verstehens und Verzeihens. Wenn wir den Sterbenden unaufdringlich dabei unterstützen, abgespaltene Gefühle wahrzunehmen, peinlich Verschwiegenes mitzuteilen und zu integrieren, offene Konflikte zu bereinigen und sich für Fehltritte zu entschuldigen, dann kann auch ohne Vorbehalte das gewürdigt werden, was im Leben gut gelaufen ist.
Eine gute Atmosphäre schaffen
Es ist besonders wichtig, beizeiten über das Sterben zu sprechen und eine gute Atmosphäre für den Übergang vorzubereiten. Oft unterbleibt dies aus der falschen Angst davor, damit Resignation und Hoffnungslosigkeit zu bekunden. In einer ruhigen und besinnlichen Gesprächssituation, ohne mahnende und wertende Untertöne, ergeben sich von selbst geeignete Anknüpfungspunkte. Wenn die Begleiter den auftauchendem Themen und der seelischen Dynamik wertschätzend und verständnisvoll begegnen, kann sich eine integrierende Lebensüberschau eröffnen, auch und gerade dann, wenn sich Negatives und Belastendes artikulieren sollte. Dabei ist es wichtig, dem Sterbenden zu vermitteln, dass wir ihn gernhaben, schätzen, aber uns nicht an ihn klammern, sondern einverstanden sind, wenn er von uns geht, weil wir alle selber einmal vor diesem letzten Schritt stehen.
Loslassen zu lernen, die vielen kleinen Tode zu sterben, ist eine Kunst, die es schon während des Lebens einzuüben gilt. Abschiede, unerfüllte Wünsche, zerbrochene Hoffnungen oder unwiederbringliche Verluste. Es gibt keine Veränderung ohne Krise, ohne Loslassen vom Alten kein Einlassen auf Neues. Nur wenn wir uns mehr und mehr auf das Wagnis des „Stirb und Werde“ einlassen, sind wir imstande, uns von der Fixierung auf unser Ego zu lösen und in unserem höheren Selbst zu verankern, das uns auch durch schwierigste Phasen des Lebens zu tragen vermag.
Dr. Sylvester Walch
Dr. Sylvester Walch, Ausbilder für Psychotherapie, verbindet seit mehr als 25 Jahren in seiner Arbeit Psychotherapie und Spiritualität. Er ist Autor zahlreicher Artikel und mehrerer Bücher: „Subjekt und Realität“, „Dimensionen der menschlichen Seele“, „Vom Ego zum Selbst“ und „Die ganze Fülle deines Lebens“. www.walchnet.de
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