Betrachtungen eines Rosenkreuzers - Manche Themen sind immer heikel, besonders in diesen schwierigen Zeiten, in denen gewisse Werte auf der ganzen Welt in Frage gestellt werden und alle möglichen Arten von Ideen durch das Internet verbreitet werden.
Dies macht eingehende Betrachtungen zu Säkularität und deren Beziehung zur Spiritualität notwendig. Es muss uns allen klar sein, dass, während ein Abgleiten in religiösen Extremismus in vollem Gange und praktisch außer Kontrolle geraten ist, zugleich auch ein Abgleiten in die Säkularität stattfindet.
Heute sehen wir, dass in bestimmten Ländern der religiöse Fundamentalismus einige politische Führer und Institutionen dazu veranlasst hat, eine zunehmend robuste Haltung einzunehmen, die die Säkularität unterstützt. Unter den gegenwärtigen Umständen ist das gesund, denn was unbedingt vermieden werden muss, ist eine Situation, in der das, was dem Bereich der Religion angehört, die Gesetze ersetzt, die das öffentliche Leben bestimmen. Allerdings dürfen solche Befürchtungen nicht zu einer Herabwürdigung der religiösen Überzeugungen und erst recht nicht der Spiritualität im Allgemeinen führen.
Seit einiger Zeit sehen wir den zunehmenden Einfluss eines nichtreligiösen oder säkularen Fundamentalismus, der an Säkularismus grenzt und dessen Ziel es zu sein scheint, die moralischen Werte auf eine atheistische Grundlage zu stellen und dem Rationalismus einen ebenso hohen Stellenwert einzuräumen wie der Vernunft. Demgegenüber haben die inspiriertesten Philosophen der Vergangenheit auf so bewundernswerte Weise gezeigt, dass Säkularität und Spiritualität in keiner Weise miteinander in Konflikt stehen, sondern harmonisch zusammen existieren können.
Dieses Phänomen ist sicherlich nicht neu. So wie es zum Beispiel während der französischen, russischen, chinesischen und auch in vielen anderen Revolutionen im Verlauf der letzten Jahrhunderte weit verbreitet gewesen ist, werden weiterhin mit Unterstützung durch gewisse Strö- mungen, insbesondere politischer Natur, alle Formen von Spiritualität bekämpft.
Spiritualität entstand im menschlichen Bewusstsein bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte und ging einher mit der Entwicklung von Kunst, Literatur, Architektur und anderen Bereichen, die ein integraler Bestandteil unserer Geschichte, Kultur und Tradition sind. Säkularität in unserem heutigen Verständnis ist tatsächlich ein sozial-politisches Gebot, das relativ neue und keineswegs universelle Natur ist.
Wie dem auch sei, Spiritualität und Säkularität sind untrennbar geworden und müssen gegenseitig Respekt voreinander haben. Aus diesem Grund sollten Atheisten, selbst wenn sie keinerlei spirituelle Neigungen haben, sich genauso aufgeschlossen zeigen wie jene Menschen, die spirituell eingestellt sind, aber keiner Religion angehören. Daraus ergeben sich 12 Punkte als Gedanken zu diesem Thema, die man als „rosenkreuzerisch“ bezeichnen kann:
1) Wenn religiöser Fundamentalismus verwerflich ist, so gilt dies in gleicher Weise für weltlichen oder nicht-religiösen Fundamentalismus, denn dieser führt ebenso zu Intoleranz, Diskriminierung und Unterdrückung.
2) Es sollte weder Gesetze noch zivile Vorschriften geben, die irgendjemanden daran hindern, seinen Glauben frei zu leben, solange er dies in Achtung des öffentlichen Rechts und in Respekt seinen Mitbürgern gegenüber tut.
3) Alle Religionen verdienen Respekt in Bezug auf das Beste, was sie ihren Anhängern bieten, um ihren Glauben friedlich zu leben und einen positiven Beitrag für ein harmonisches Zusammenleben zu leisten.
4) Spiritualität ist umfassender als Religiosität, in dem Sinn, dass ein Mensch durchaus spirituell eingestellt sein kann, ohne einer Religion anzugehören oder einem religiösen Glaubensbekenntnis zu folgen.
5) Keine Religion verfügt über das Monopol in Bezug auf Glaube oder Wahrheit, und keine Religion ist dazu bestimmt, die ganze Welt zu beherrschen.
6) Der beste Dienst, den ein Anhänger seiner eigenen Religion gegenüber leisten kann, besteht darin, jegliches fundamentalistische oder fanatische Verhalten, das angeblich in deren Namen ausgeübt wird, ganz offen zu verurteilen. Dies zu unterlassen bedeutet nämlich, das Schlimmste, was Religion hervorzubringen vermag, zu unterstützen und dazu zu ermutigen.
7) Es stimmt, dass die Religion im Verlauf der Geschichte Streitigkeiten, Konflikte und Kriege verursacht hat, doch trifft dies in weit größerem Maße auf die Politik zu. Und schließlich findet man in der religiö- sen und mystischen Literatur die meisten Aufrufe zu Brüderlichkeit und Frieden.
8) So paradox es auch erscheinen mag, die Zivilgesellschaft sollte den Dialog zwischen den Religionen fördern, denn dies ist ein Weg für die Gläubigen, die ja auch Mitglieder der Gesellschaft sind, der gegenseitigen Toleranz besondere Aufmerksamkeit zu widmen, ganz zu schweigen vom Wohlwollen.
9) Da es unmöglich ist, die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes zu beweisen, sollten die Gläubigen den Atheisten ebenso Respekt zollen, wie umgekehrt die Atheisten den Gläubigen.
10) Auch wenn Politik und Religion ebenso wie Rationalität und Glaube zwei unterschiedliche und getrennte Bereiche sind, so sollten sie doch nicht als unvereinbare Gegensätze betrachtet werden, sondern vielmehr miteinander im Dienste des Gemeinwohls angewandt werden.
11) Da jeder Mensch eine Seele hat, ist die Spiritualität ein integraler Bestandteil seines Wesens und ein lebenswichtiges Bedürfnis, dem weder durch Atheismus noch Materialismus entsprochen werden kann.
12) Obwohl die Säkularität notwendig ist, um sicherzustellen, dass eine Gesellschaft nicht in eine Theokratie abgleitet, sollte die Spiritualität für alle Bürger eine Quelle der Inspiration sein, sowohl für diejenigen, die regieren als auch für jene, die regiert werden.
Möge Weisheit die Menschen und die ganze Welt erleuchten
Christian Bernard
Der Autor:
Christian Bernard war als Großmeister 15 Jahre verantwortlich für die französischsprachigen Länder, bevor er 1990 zum weltweiten Präsidenten von AMORC berufen wurde. Er lebt seine Überzeugung, dass die Ideale der Rosenkreuzer eine bemerkenswerte Lebensgrundlage darstellen, einen Weg zu Wissen und Weisheit, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
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