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Demut

Schon das Wort „Demut“ ist ein rotes Tuch für das Ego. Denn Demut gilt weithin als Schwäche und Mangel. Aber was ist schrecklicher: Demut oder ein Mangel an Demut?

Es gibt viele Aspekte eines spirituellen Lebens, doch ich möchte hier bei den zwei wichtigsten verweilen – bei der Einfachheit und der Bescheidenheit. Zwei Eigenschaften, die in diesen Zeiten dringend benötigt werden und die, wenn man sie beherzigt, unser Leben in die rechte Richtung lenken und uns befähigen, die vollkommene Einheit mit Gott zu erlangen. Alle spirituellen Meister – wie z. B. Jesus, Mahavira, Buddha, Ramakrishna und andere in der jüngeren Zeit – strahlten durch ihre Persönlichkeit diesen göttlichen Glanz aus.

Ein Lernender bleiben

Der Mensch kennt so viele Dinge, aber sich selbst – sein wahres Selbst – kennt er nicht, weil die Tiefen seines Herzens von dichten Schleiern verdeckt und verhüllt sind. Der Mensch lernt und verlernt sein ganzes Leben lang. Es ist klüger, ein Schüler zu bleiben, als ein Lehrer zu sein – ein Schüler des Mysteriums des Lebens.

Es wird erzählt, dass ein Gottsucher, der nach dem Himmel forschte und überall herumwanderte, sich unversehens an der Himmelstür befand. Der Türhüter fragte ihn: „Wer bist du?“, und der Sucher antwortete: „Ein Lehrer.“ Der Türhüter bat ihn zu warten und ging hinein, um zu berichten. Nach einer Weile kam er zurück und sagte, er könne ihn nicht einlassen, da es in der himmlischen Welt keinen Platz für Lehrer gäbe. Ihm wurde geraten, zurückzugehen und den Unrat der hohlen Worte, der ihm anhafte, im Wasser des Schweigens abzuwaschen. – So viele Lehrer sind eitel, sie prahlen mit ihrem Wissen. Wie kann es im Himmel einen Platz für jene geben, die in der Welt der Eitelkeit leben? – Nun saß er also täglich im Schweigen, hörte auf die Worte der Heiligen, und das Bewusstsein seines Selbst begann sich zu entwickeln. Er wurde demütig und betete darum, Diener aller Menschen zu werden, der Einsamen und Niedrigen und der Tiere – ein Diener von Gottes Schöpfung. Schließlich öffneten sich die Pforten des Himmels, er trat ein und erblickte das reine, schöne Antlitz Gottes, das keinem Vergleich standhält.

Fundament des spirituellen Lebens

Alle Meister sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart sagen, dass „das Reich Gottes für die demütigen Herzen ist“. Bedauerlicherweise sind so viele von uns stolz und eitel, vertieft in ihr Ego. Blind für die Weisheit, wandern wir von einer Dunkelheit in die andere.

Der Gott, der Abermillionen von Menschen beherrscht, ist das Ego. Setze den Gott der Liebe auf den Thron deines Herzens und höre auf, umher zu streunen. Tue, was getan werden muss. Werde bescheiden. Die Welt ist voller Stolz auf Geld und Macht oder auf Wissen, während wir doch bescheiden und einfach sein und uns von allem „Ich“ frei machen sollten.

Das Leben, das zu leben sich lohnt, ist das Leben im Geiste. Sein Fundament ist Bescheidenheit. Das falsche Ich oder Ego sollte auf null reduziert werden und Gott sollte darin alles sein. Nur so können wir umsetzen, wozu Jesus seine Schüler anhielt, und „vollkommen werden, wie unser Vater im Himmel vollkommen ist“.

Das Glück der Bescheidenen

Die wirklich Bescheidenen sind die wirklich Glücklichen. Aus Mangel an Bescheidenheit führen Männer und Frauen ein unerträgliches, unglückliches Leben. Dieses ganze Elend kommt von innen. Bescheidenheit bedeutet nicht notwendigerweise eine Änderung unserer äußeren Lebensverhältnisse, sondern es geht um eine innere Befreiung aus der Knechtschaft des Ichs, des kleinen Egos, das uns tyrannisiert und uns der Glückseligkeit beraubt, die uns als Kindern Gottes eigentlich als Erbe zusteht. Wir befinden uns mehr oder weniger in einem Käfig der stolzen Selbstbehauptung, und ehe nicht das Gefängnis mit dem Schlüssel der Demut geöffnet wird, kann die Seele nicht frei werden, um in die Regionen des Glanzes und der Freude aufzusteigen.

Der Weg zu wahrer Glückseligkeit ist der Weg der Demut und der Liebe. Der Demütige und Bescheidene hat keine Probleme, denn er lässt sich in allem von Gott leiten.

Die Alchemie der Demut

Wenn das Licht der Demut in der Seele aufdämmert, verschwinden das Dunkel und die Selbstsucht; die Seele lebt nicht länger für sich selbst, sondern für Gott. Die Seele verliert sich selbst in Gott, lebt in Gott und wird in Ihn verwandelt. Das ist die Alchemie der Demut. Sie verwandelt den Niedrigsten in den Höchsten. Der große chinesische Weise Laotse brachte diesen Gedanken sehr schön zum Ausdruck: „Wie wird das Meer zum König aller Flüsse und Ströme? Weil es niedriger liegt als sie.“

Der heilige Augustinus erkannte die Demut als die Grundlage aller anderen Tugenden und sagte: „Wenn man mich fragt, welches Gebot die erste, die zweite, die dritte Stelle einnimmt, so antworte ich: Demut, Demut und nochmals Demut!“

Leute, die stolz auf ihr Geld, Wissen und Ansehen sind, würden zu keinem Heiligen gehen, wenn er nicht demütig wäre. Und selbst, wenn sie zu ihm gehen, betrachten sie sich als dem Heiligen überlegen und hören nicht auf ihn. Ein Glas, das über einen Wasserhahn gehalten wird, bleibt leer; man muss es darunter halten. Du weißt, was du weißt; so höre auf das, was die wirklich Wissenden sagen – vielleicht kannst du etwas von ihnen lernen.

Ich und die Anderen

Ja, die Zweige eines fruchtbeladenen Baumes beugen sich unter ihrem eigenen Gewicht. Ebenso beugt sich der Mensch, der sich selbst verliert und dadurch Gott findet, vor allen und respektiert alle in seinem Herzen. Dies ist wahre Demut. Es ist keine erzwungene Erniedrigung. So einer lebt mit allen im Einklang. Er ist in den Anderen, und die Anderen sind in ihm.

Es ist das falsche Ego-Selbst, das Disharmonie und Trennung verursacht. Ist die Täuschung des Egos gebannt, spürt man: „Ich bin nicht von den Anderen getrennt, denn die Anderen sind Teile des Einen Gottes und wir alle sind von Gott zum gleichen Dienst verpflichtet.“

Jeder von uns ist auf seine Weise einmalig. Dem Leben eines jeden, der in die Welt kommt, liegt eine göttliche Absicht zugrunde. Keiner ist für nichts geschaffen. Wir haben von jedem etwas zu lernen. Dies ist das Geheimnis der Demut.

Der wirklich bescheidene Mensch vergleicht sich nicht mit anderen. Er weiß, dass keiner von uns vollkommen ist, wie hochentwickelt er auch sein mag. Keiner von uns ist in sich selbst vollkommen. Der bescheidene Mensch hält nicht den einen für besser als den anderen, er glaubt an das Göttliche in jedem Einzelnen. Wenn einer sagt und behauptet, er sei besser als andere, ist er noch nicht vollkommen.

Nur wenn einer einsieht, dass sein Ich ein Nichts – eine leere Täuschung – ist, kommt Gott und erfüllt ihn mit Sich Selbst. Gott ist nicht da, wo der Mensch ist; Er ist da, wo der Mensch nicht ist! Gott kann nicht ins Herz eines selbstsüchtigen Menschen eintreten. Wer von sich selbst erfüllt ist, betrachtet sich selbst als über den anderen stehend und damit setzt er sich selbst Grenzen. Gott aber ist grenzenlos. Wie könnte das Unbegrenzte in das Begrenzte eintreten? Wenn du also Gott suchst, siehe zu, dass du dich nicht über andere erhebst. Entleere dich von allem „Ich“, wirf das Ego hinaus und schon stehst du vor Gott.

Der Stolz der Demut

Es kommt vor, dass ein Mensch sich nach Kräften bemüht, demütig zu sein, aber trotz all seinem Bemühen immer stolzer wird. Es gibt so etwas wie den Stolz der Demut. Das ist sehr gefährlich, denn er ist zu subtil, zu fein, um von einem Unerfahrenen erkannt zu werden. Manche strengen sich an und nehmen sich vor, demütig zu sein; so machen sie aber Demut unmöglich. Wie kann einer demütig sein, der die ganze Zeit darüber nachdenkt, wie er am besten demütig sein könnte? Ein solcher Mensch ist dauernd mit sich selbst beschäftigt! Wahre Demut besteht jedoch im Freisein von aller Ichbewusstheit, was Freisein von der Bewusstheit der Demut einschließt. Der wirklich Demütige weiß gar nicht, dass er demütig ist.

Der wirklich Demütige nimmt alles als aus der Hand Gottes kommend an. Er bemüht sich nicht um Lob. Er weiß, dass alles Gute in ihm von Gott stammt, und das Lob, das die Menschen ihm aussprechen, gehört Gott. Als der reiche Jüngling Jesus einen „guten Lehrer“ nannte, sagte Jesus ruhig: „Warum mich gut nennen? Keiner ist gut außer Gott.“ (Markus 10.18) So nimmt der wirklich Demütige zuweilen das Lob, das ihm die Menschen sprechen, an und gibt es still an Gott weiter, ohne etwas für sich zu behalten.

Der Demütige macht nicht viel Aufhebens. Er lebt mit sich und anderen in Harmonie und Frieden. Er fühlt sich sicher und geborgen im Leben; wie ein Schiff im Hafen haben die Stürme der wechselhaften Lebensumstände keine Macht mehr über ihn. Er fühlt sich so leicht wie die Luft. Die Lasten, die wir unser ganzes Leben mit uns tragen – die Lasten des Ichs und seine Wünsche – hat er abgelegt, und so ist er immer ruhig und heiter. Weil er die Bindung des Verlangens zerbrochen hat, ist er mit einem Stück trockenes Brot genau so zufrieden wie mit einem Luxusmahl. Da er nichts als sein Eigenes beansprucht, gibt es für ihn nichts zu verlieren; und doch gehört alles ihm, denn er ist in Gott und Gott ist in ihm.

Sant Kirpal Singh

Sant Kirpal Singh, (1894 – 1974) wirkte seit 1948 als spiritueller Meister. Auf seinen Vortragsreisen und als langjähriger Präsident der „Weltgemeinschaft der Religionen“ erwarb er sich im Osten wie im Westen große Achtung und Sympathie.

Inspiration & Information
Soami Divyanand: Spirituelle Unterweisungen
(Sandila Verlag)

FOTO: gettyimages

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