
Das was wir Gott nennen, ist nicht nur Urheber von allem was ist, sondern ist in allem präsent. Wenn wir das erkennen würden, würden wir achtsam mit der Schöpfung umgehen.
Es ist der Gipfel der Täuschung zu glauben, Gott und die Schöpfung seien voneinander getrennt. Gott – jene alles gestaltende, belebende und erhaltende geistige Kraft – ist gegenwärtig in allem was ist. Das ganze Universum ist eine Manifestation Gottes, denn er hat alles aus sich selbst hervorgebracht. So sind Gott und das Universum (wozu nicht nur die grobstoffliche oder materielle Welt, sondern auch die subtilen und geistigen Welten gehören) untrennbar eins. Hätte Gott sich (wie manche glauben) nach dem Erschaffen aus seinem Werk zur Ruhe zurückgezogen, wäre das gesamte Universum sofort wieder zerfallen.
Gott ist die Seele der Schöpfung, die Überseele, das Lebensprinzip, die Ursache im Innersten von allem, denn ohne sie kann nichts ins manifeste Dasein treten. – Aber wie geschieht das? Wie hat Gott alles gemacht?
Aus dem Einen wird Vieles
Die großen Seher, Heiligen und Meister-Yogis haben seit jeher in Zusammenhang mit der Selbstanalyse und der Rückkehr der individualisierten Seele zu Gott bzw. der Überseele das aktive schöpferische Wirken der Gotteskraft erkannt. Gott existiert in zwei grundlegend unterschiedlichen Weisen: einerseits absolut, ruhend und nicht-manifest, und andererseits manifest, als aktive Kraft.
In der aktiven, manifesten Form verströmt sich die Gotteskraft und breitet sich als beständige Ur-Schwingung, als Ur-Klang aus, der der gesamten Schöpfung zugrundeliegt. Diese auswärts strömende Ur-Schwingung hat eine belebende Wirkung und überträgt ihren Lebensimpuls auf die anscheinend träge Ur-Materie durch den Kontakt mit ihr. In der Natur selbst, in den feinstofflichen und kausalen Ebenen, sind diese beiden Prinzipien ständig am Werk: Gott und Ur-Materie (Prakriti). Die gesamte Schöpfung ist nur eine Folge der Einwirkung des einen auf das andere.
Auch naturwissenschaftliche Forschungen sind zu dem Schluss gekommen, dass alles Leben eine fortlaufende Existenz auf verschiedenen Ebenen ist und dass das, was wir träge Materie nennen, nichts anderes als Energie auf ihrer niedrigsten Stufe ist. Es liegt im Leben und Licht dieses belebenden Impulses der Seele (der aktiven Gotteskraft), dass die Materie so viele Formen und Tönungen annimmt mit ihrer Vielfalt an Mustern und Gestaltungen, die wir im Universum sehen.
Das Eine in vielen Formen
Dieser Lebensstrom bzw. die Seele ist äußerst subtil, ohne Anfang und Ende, auf ewig derselbe, eine unveränderliche Permanenz, grenzenlos, vollkommen in sich selbst, immer seiend, eine alles empfindende Wesenheit, die jeder Form innewohnt, sichtbar wie auch unsichtbar, denn alle Dinge werden um ihretwillen manifest. Es gibt nichts, das nicht durch diesen Lebensstrom entstanden wäre.
So wie die Sonne ihre Strahlen in die Welt aussendet, so scheint sich die Überseele oder Gott, wenn man durch Seine Schöpfung hindurchschaut, in viele Formen aufgeteilt zu haben, und das Licht und Leben Gottes in einem großen Panorama von bunten Färbungen zu zeigen; doch Gottes Geist durchdringt alles gleich einer Schnur, auf der die Perlen aufgereiht sind. Und dennoch bleibt „Er“ davon unberührt und erhaben in Seiner eigenen Fülle.
Das, was wir Gott nennen, hat eine essenzielle Göttlichkeit, die absolut und ohne Erscheinungsformen ist, und ist doch zugleich das Universum selbst mit seinen vielfältigen Schöpfungen, die so viele Formen und Farben in Fülle manifestieren und die erscheinen und wieder vergehen wie Wellen im Meer des Lebens.
Elemente und Materie
Als Erstes brachte die nach unten gerichtete Projektion des von Gott ausgehenden spirituellen Stromes das Element oder Strukturprinzip Äther (akasha; Raum, Dimension) in Erscheinung; Äther ist das feinstofflichste der fünf Elemente und breitet sich überall im Raum aus. Er hat zwei Aspekte: einerseits den Aspekt des Geistes oder der Seele, der im Äther nicht-manifest bleibt, und andererseits den manifesten, aktiven Aspekt des Äthers, der seinerseits durch eine weitere Verbindung der ihm innewohnenden positiven und negativen Kraft das Element Luft (Bewegung) hervorbrachte. Auf dieselbe Weise brachte die Luft das Element Feuer (Hitze) hervor, und dieses wiederum erzeugte das Wasser (Fließendes), und das manifeste Element Wasser brachte das Element Erde (Festigkeit) hervor.
Aufgrund des vielfältigen Wechselspiels der Elemente untereinander wirkt der Lebensstrom in unterschiedlichen strukturierenden Qualitäten auf die Ur-Materie (Prakriti) ein, die nun die mannigfaltigen Formen und Muster in der gewaltigen Schöpfung des Großen Urhebers hervorbringt.
Abgrenzung und Individualisierung
Der nicht-manifeste und unpersönliche Gott ist bar aller Attribute. Seine individualisierten Strahlen hingegen, die sich durch die ständige Berührung mit der Materie in unzähligen Formen und Farben manifestieren, halten sich infolge der Unkenntnis ihrer wahren Natur für begrenzt und voneinander getrennt. Dadurch geraten sie in den Umkreis des unerbittlichen karmischen Gesetzes oder des Gesetzes von Ursache und Wirkung, welches für jede Tat, jedes Wort und jeden Gedanken eine entsprechende Folge nach sich zieht. Was in dem einen Leben unerfüllt blieb, wird in einem anderen erfüllt, und so dreht sich das gewaltige Rad von Leben und Tod beständig weiter.
Hierin liegt der Unterschied zwischen einer individualisierten Seele auf der einen Seite und der großen Seele des Universums (genannt Gott) auf der anderen. Die eine ist gebunden und begrenzt, während die andere ohne alle Beschränkungen und Begrenzungen ist.
Die fünf Hüllen der Seele
Im Zuge der Berührung und Beschäftigung mit den diversen Formen der Materie sammeln sich Eindrücke im auswärts gerichteten Geist der individualisierten Seele an und verhüllen sie zunehmend. Aber die großen Yoga-Meister, die sich seit jeher für die Befreiung und Wiederherstellung der individualisierten Seelen einsetzen, berücksichtigen die fünf Koshas oder die den Geistessstrom umgebenden Hüllen, die sich im Verlauf seines Abstiegs auf ihn legen, und haben entsprechend Mittel und Wege ersonnen, um diese wieder zu entfernen. Die Koshas oder Hüllen können kurz wie folgt beschrieben werden:
Vigyana-maya-kosha: die Hülle des mentalen Werkzeugs oder des Intellekts. Der Intellekt wirkt in zwei Richtungen: er bewirkt Wissen (gyan) auf der physischen Ebene und Erleuchtung (vigyan) auf der spirituellen.
- Vigyana-maya-kosha: die Hülle des mentalen Werkzeugs oder des Intellekts. Der Intellekt wirkt in zwei Richtungen: er bewirkt Wissen (gyan) auf der physischen Ebene und Erleuchtung (vigyan) auf der spirituellen.
- Mano-maya-kosha: die zweite Hülle, die die intellektualisierte, erkennende Seele durch die weitere intensive Verbindung mit Materie umgibt und nunmehr auch den Gemütsstoff – mentale und emotionale Abläufe – zu reflektieren beginnt.
- Prana-maya-kosha: die Hülle der Pranas oder Lebensenergien. Indem die denkende (erkennende) und aufmerksame Seele noch mehr in Prakriti eindringt, beginnt sie durch die Pranas (die gemäß ihrer verschiedenen Formen in zehn Arten bestehen) zu vibrieren. Dies treibt die Seele durch die belebende Wirkung an.
- Ana-maya-kosha: die vierte Hülle der erkennenden, mit Gemüt behafteten und angetriebenen Seele. Diese Hülle bedarf zu ihrer Erhaltung einer ständigen Zufuhr von „Nährstoff“ (Ana) in Form von Gedanken und Sinnesgegenständen. Sie ist quasi die Innenseite des grobstofflichen physischen Körpers, der nur die äußere Erscheinung davon ist, und umgibt die Seele auch dann noch, wenn die äußere Form (der physische Körper) verfällt und sich zersetzt.
- Ananda-maya-kosha: die Hülle der Glückseligkeit ist die allererste und feinstofflichste der Koshas; sie ist beinahe ein Teil der Seele selbst.
Alle Wesen – von den feinstofflichsten, rein erkennenden Gottheiten (göttlichen Herrscherkräften) bis zum Menschen und den anderen physischen Lebensformen einschließlich der Pflanzen – werden je nach dem Vorherrschen der einen oder anderen Kräfte in fünf Kategorien eingeteilt. Geschöpfe wie Menschen, Säugetiere, Vögel, Reptilien, Insekten usw., die mit einem physischen Körper ausgestattet sind, haben alle fünf Koshas in variierendem Dichtigkeitsgrad in sich. Die befreiten Seelen (jivan-mukta) haben nur den einen durchsichtigen Schleier von Ananda-maya-kosha. Diese Glückseligkeit ist die allererste Folge der Wechselwirkung von Seele und Prakriti, die erste Manifestation der Gotteskraft in der Seele. Sie bleibt am längsten, bis zum Ende in ihrer ganzen Fülle, trotz der anderen vier Hüllen, von denen sie umgeben ist und die ihren Glanz trüben.
Yoga und Befreiung
Ziel und Zweck aller Yoga-Arten ist es, die Seele nach und nach von diesen Hüllen zu befreien, bis sie zuletzt aus allen gelöst ist und ihre ursprüngliche Glorie, in der sie aus sich selbst erstrahlt (sayam jyoti), wiedererlangt hat.
Die verschiedenen Yoga-Wege haben verschiedene Ansatzpunkte und Ziele, je nach vorherrschender Neigung und Konstitution der Seele. Menschen, die am Prozess der Körperbildung interessiert sind, nehmen erfolgreich zu Hatha-Yoga Zuflucht. Prana-Yoga klärt und fördert die Lebensenergien. Menschen, die unter der Unwissenheit und Unbeständigkeit des Gemüts leiden, können dem mit Hilfe von Raja-Yoga begegnen. Menschen mit starker intellektueller Veranlagung wenden sich dem Pfad des Jnana-Yoga zu. Wer vor allem nach Befreiung (Erlösung) und Glückseligkeit sucht, geht den Pfad des Ananda-Yoga oder den Yoga wahren Glücklichseins, auch Sahaj-Yoga oder „müheloser Yoga“ genannt.
Wer mit der Meisterung seiner physischen und mentalen Kräfte allein nicht zufrieden ist und ein Verlangen nach dem Endzweck aller Dinge, nach dem Ziel aller Ziele hat, wird früher oder später einen Adepten finden, so wie Ramakrishna Totapuri begegnete, der ihn direkt mit dem lebendigen Klangstrom im Innern seiner Seele in Verbindung bringt. Dieser spirituelle Strom wird ihn ohne große Mühe und Anstrengung seinerseits nach oben zur Quelle bringen.
Soami Divyanand
(1932–2014), Meister des Surat-Shabd-Yoga, lehrte mehr als 35 Jahre lang den spirituellen Pfad des inneren Lichtes und Klangs. Veden-Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher.
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