Alle uns zur Verfügung stehenden spirituellen Schriften sprechen von der Notwendigkeit eines Meisters, Gurus oder Heiligen.
Gesandte mit einem Auftrag
Das Thema beschäftigt uns also nicht erst seit heute. Immer, wenn die Meister in Erscheinung traten, hat man dieser Frage große Bedeutung beigemessen. Daher sollte man klar verstehen, was ein spiritueller Meister ist und worin seine Arbeit besteht.
Als man den zehnten Guru der Sikhs fragte, ob er ein Meister sei oder nicht, erzählte er zunächst von seinen früheren Lebensläufen (wovon nur sehr wenige Heilige sprechen) und beschrieb seinen spirituellen Werdegang. „Ich unterzog mich strengen Bußübungen und habe sehr lange meditiert – schließlich erkannte ich, dass Gott in mir war und ich in Ihm. Gott wies mich dann an, wieder in die Welt zu gehen. Ich sagte Ihm, dass ich nicht in die irdische Welt zurückkehren wollte.“ (Wer ist schon bereit, diesen Zustand höchster Glückseligkeit zu verlassen und in die Welt zu gehen? Wenn die Meister kommen, wird es ihnen auferlegt. Niemand würde diesen Ort ewigen Friedens und ewiger Freude gerne verlassen, um zur Erde herabzukommen.) „Aber Gott gebot mir: ‚Nun geh!‘ Ich fragte Ihn: ‚Warum soll ich gehen?‘ Und Er sagte: ‚Ich habe so viele vor dir gesandt; sie alle verkündeten natürlich die Botschaft, aber letztlich baten sie alle darum, verehrt zu werden.‘“ (Die Menschen verehren die Inkarnation, statt Gott. Nur wenige von Gott gesandte Meister, wie zum Beispiel Jesus Christus, der Prophet Mohammed oder Kabir, verkündeten: „Mein himmlischer Vater bzw. Gott hat mich gesandt.“) Guru Gobind Singh erzählt weiter: „Ich unterwarf mich Seinem Willen und Wohlgefallen.“ So kam er zu den Menschen und sprach: „Wisst ihr, wer ich bin? Ich bin euer aller Diener. Ich bin nicht mehr als ein Mensch, wie ihr. Natürlich hat Gott mich geschickt. Verehrt Gott und nur Gott allein.“ Aber da es bereits Brauch war, begann das gewöhnliche Volk auch ihn zu preisen und zu verehren – wie bei allen früheren Gottesgesandten. Und darüber vergaßen sie Gott. Deshalb warnte er sie mit drastischen Worten vor diesem Fehler: „Wer mich Gott nennt, wird der Hölle nicht entkommen können.“
Die Meister sind also Gottes voll bewusst, sie sind die in Menschengestalt verkörperte Gotteskraft, oder biblisch gesprochen: das fleischgewordene Wort. Sie erklären uns, dass Gott in jedem Herzen wohnt und dass wir Ihn und nur Ihn allein verehren sollen. Respektiert jeden, aber verehren solltet ihr nur Einen – Gott.
So wirken alle Meister, die nur gekommen sind, um die Menschen mit Gott zu vereinen – das ist ihr Auftrag. „Kehrt in eure Heimat zurück!“ Sie helfen euch dabei, heimzukehren, und verbinden euch auch mit Ihm. Denn wo ist Gott? Er wohnt im selben Körper, in dem ihr lebt. Gott ist die kontrollierende Kraft in euch, wie Er die kontrollierende Kraft im ganzen Universum ist.
Die Aufgabe eines Meisters
Wer ist also ein Meister? Gott wohnt in jedem Geschöpf; doch in einem Meister ist Er manifest; in der Gestalt des Meisters kommt Gott vollkommen und vollständig zum Ausdruck. Er wohnt zwar in jedem von uns, Er ist die beherrschende Kraft, aber Er ist in uns nicht völlig offenbar.
Und worin besteht die Arbeit dieser im Meister manifest gewordenen Gotteskraft? Der Meister vereint die Seelen mit der Gotteskraft und begleitet sie auf der langen Reise in ihre spirituelle Heimat. Und selbst wenn der spirituelle Schüler, den er einmal in seine Obhut genommen hat, sich von ihm abkehrt, gibt ihn der Meister niemals auf. Unser Meister pflegte zu sagen: „Er führt uns an einer langen Leine.“ Jedes Mal, wenn er daran zieht, bringt es den Schüler auf den rechten Weg zurück. Der spirituelle Meister wird eine Seele, für die er zuständig ist, niemals verlassen.
Er ist nicht Gott gleich – das würde bedeuten, dass es zwei gibt. Vielmehr sagen die Meister von sich: „Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir“ oder „Ich und mein Vater sind eins“ oder „Der Sohn und der Vater sind in der gleichen Farbe gefärbt“ – ich zitiere verschiedene Heilige. Der Meister ist ein Mensch unter Menschen. Er wird auf dieselbe Weise wie sie geboren, er hat wie sie zwei Augen und zwei Ohren; der äußere und der innere Aufbau ist derselbe. Aber der Unterschied besteht darin, dass in ihm die Gotteskraft oder das Wort offenbart ist. Er ist „das fleischgewordene Wort, das unter uns wohnt“.
Zwei in Einem
Wer ist imstande, die Menschenseelen zu Gott zu führen? Nur der Eine höchstselbst. Nanak, der erste Guru der Sikhs, sagte: „Gott ist Einer; Er ist der Herrscher aller drei Ebenen. Er ist ewig, wahr und zeitlos; Er durchdringt die ganze Schöpfung.“ Was sagt man sonst noch von ihm? Gott ist alles in allem, nichts ist Ihm gleich (sonst gäbe es zwei). Er ist der Erzeuger aller Dinge, Er herrscht über allem, keine andere Kraft steht über Ihm. Er manifestiert Sich selbst; Er wird durch niemanden hervorgebracht.
Wenn Gott also eine vollendete, mit Ihm Eins gewordene Seele beauftragt, zurück zu den Menschen zu gehen und sie ans spirituelle Ziel in Gott zu bringen, so ist dies ein wahres Gottesgeschenk. „Gott gibt euch Gott als Geschenk!“, heißt es bei Nanak – Gott schenkt sich Selbst den spirituellen Suchern in Form des Meisters.
Über das Paradoxon von Eins-in-Zwei hat auch Maulana Rumi geschrieben. „Gott sprach: Ich bin so groß, dass nichts in dieser oder der nächsten Welt, in keinem der Universen, die ich schuf, mich in sich fassen könnte. Und doch wohne ich im Herzen eines Ergebenen.“ Es ist wirklich seltsam! Der islamische Mystiker Kabir wiederum sagt offen: „Man sagt, dass Kabir und Gott zwei Dinge seien.“ Sie sind Einer in zweien und zwei in Einem; jene, die das nicht verstehen, sagen, dass sie zwei (nicht eins) sind.
Wenn man die Schriften studiert, wird man merkwürdige Ereignisse, seltsame Dinge finden – können wir uns die Größe eines Meisters je vorstellen? Maulana Rumi sagt, dass nur wer fliegen kann, weiß, was es heißt zu fliegen. Kann eine Maus, die auf der Erde herumflitzt, sich je vorstellen, wie hoch eine Taube fliegt? Es gibt eine Parabel von einer Maus, die einmal schnell dahinrannte. Eine Taube in der Luft sah sie und fragte: „Warum rennst du so?“ Die Maus erwiderte: „Ich bin auf meiner Pilgerfahrt nach Mekka.“ Die Taube erbarmte sich ihrer (Tauben fliegen 110 bis 130 km/h), ergriff die Maus mit ihren Krallen und brachte sie so nach Mekka. Gleicherweise können die spirituellen Meister die Seele von uns Menschen, die wir auf der Erde herumkriechen, mitnehmen und in die jenseitigen Ebenen zu Gott bringen.
Ins Jenseits aufsteigen
Ein solcher Meister, der das fleischgewordene Wort ist, eröffnet seinen Schülern eine beseligende Schau dieses Jenseits. Wer kann sich schon willentlich über die Ebene des physischen Körpers ins Jenseits erheben? Manche Yogis haben Jahrhunderte gebraucht, um dies zu schaffen. Mit der Unterstützung eines gottverwirklichten Meisters kann man das sofort erreichen. Das ist die Gabe des Meisters.
Seine Aufgabe besteht darin, euch den Zugang zu Gott in eurem eigenen Innern zu ermöglichen und euer inneres Auge zu öffnen, damit ihr das Licht Gottes erblickt und den Göttlichen Ur-Klang in euch hört. Der Meister zieht euch mit ein wenig seiner Aufmerksamkeit nach oben, zieht euch aus dem Strudel der nach außen strebenden Kräfte heraus, sodass ihr in euch still werdet und euch über den Körper ins Jenseits erheben könnt. Dabei könnt ihr euch selbst als eine vom Körper unabhängige Seele erkennen. „Erkennt euch selbst – ihr seid nicht der Körper.“ Dann gelangt ihr mit Gott, Der euch im Körper bewahrt, in Verbindung. Darauf achtet der Meister.
Ihr werdet kaum einen finden, der darüber spricht. Hört ihr solche Dinge von irgendeinem anderen Meister? Sie sagen: „Denkt an Gott, dann werdet ihr in Ihm aufgehen.“ Wie soll das gehen? Die Seele kann nur in Ihm aufgehen, indem sie sich selbst erkennt – nicht auf der Ebene der Gefühle, Gedanken oder Schlussfolgerungen, sondern wirklich nur durch Selbstanalyse, indem sie das Körperbewusstsein übersteigt. Er spricht nicht nur über die physische Ebene, sondern bezieht sich auf alle fünf Ebenen des Kosmos. Die muslimischen Meister sagen dasselbe: „Wenn ihr eure Aufmerksamkeit von den sechs unteren Chakras abzieht und euch zum siebten erhebt, gibt er euch eine Verbindung mit dem Ton, der vom Himmel kommt.“
Einen Meister erkennen
Das ist es also, was die Meister ganz zu Beginn tun. Sie führen euch auch auf der Astralebene und ebenso auf den höheren Ebenen. Er verlässt euch nicht bis ans Ende der Welt, was den Bereich bis zu den überkausalen und rein spirituellen Ebenen einschließt. Unser Bestimmungsort liegt sehr weit entfernt, und wir kriechen im physischen Körper auf der Erde dahin.
Meister kommen von Zeit zu Zeit, die Welt ist nie ohne sie. Die Menschen sehen die Meister, aber sie sehen einen Meister nicht als das, was er ist. Wer kann ihn erkennen? Wen er es wissen lassen will. Wir können ihn nur insoweit erkennen, als er sich uns zu erkennen gibt. Allein jene, die ein echtes Verlangen nach Gott haben, können durch Gott mit einem solchen Meister in Verbindung gebracht werden. Denn Gott in uns kennt die wahren Neigungen unseres Herzens und wohin es uns führt.
Sant Kripal Singh
Sant Kirpal Singh (1894–1974) wirkte seit 1948 als spiritueller Meister. Auf seinen Vortragsreisen und als langjähriger Präsident der „Weltgemeinschaft der Religionen“ erwarb er sich im Osten wie im Westen große Achtung und Sympathie.