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Die Unterweisungen des Meister Eckhart sind für spirituelle Sucher heute noch genauso relevant wie zu seinen Lebzeiten. Der Weg des Mystikers führt nicht zur Weltflucht, sondern bewährt sich erst in der liebevollen Aktivität unter Menschen.

Meister Eckhart gilt als bedeutender Mystiker, Theologe und Philosoph des späten christlichen Mittelalters. Bereits als Jugendlicher trat Eckhart in den Orden der Dominikaner ein und hatte dort später hohe Ämter inne. Dennoch wurde er gegen Ende seines Lebens wegen Häresie angeklagt, starb allerdings vor Abschluss des Verfahrens. Seine Mystik war von größter Bedeutung für seine Zeit und auch für die spätere Entwicklung der Philosophie und Theologie in Deutschland. Nach seinem Tod geriet Meister Eckhart in Vergessenheit bis etwa zum 18. Jahrhundert, als seine Mystik durch die idealistische Philosophie von Fichte, Schelling und Hegel wieder an die Oberfläche kam.

Eckharts Hauptanliegen war eine konsequent spirituelle Lebenspraxis im Alltag. Obwohl Eckhart als Dominikaner auch dogmatische Züge trägt und seine Einsichten für universal gültig hält, so ist für ihn doch die auf Vernunft und eigene Erfahrung gestützte Einsicht wichtiger als die Berufung auf Autoritäten.

Beziehung zwischen Seele und Gott

Die Kluft zwischen dem ewigen Gott und allem vergänglichen Geschaffenen erscheint so tief, dass nichts Geschaffenes jemals Zugang zu Gott finden kann. Das Untere fasst und begreift das Obere nicht. Und dennoch steht die Beziehung zwischen Gott und Mensch im Mittelpunkt der christlichen Lehre, und auch Eckharts Denken kreist um sie, ist der Mensch doch selbst Mittler zwischen Himmel und Erde.

Eckhart ordnet daher die menschliche Seele hinsichtlich ihres Kernbereichs nicht dem Bereich der geschaffenen Dinge zu, sondern spricht von ihr als einer göttlichen Qualität. Dieser göttliche Kernbereich der Seele, ihr Innerstes, ist der zeit- und raumlose Seelengrund. Eckhart spricht auch vom „Fünklein“, das immer leuchtet, aber verborgen ist. Dieser göttliche innerste Grund der Seele ist nicht ein Teil eines Ganzen neben anderen Teilen, sondern ist von all dem in der Seele, was geschaffen ist, seiner Natur nach fundamental verschieden.

In der Terminologie der Rosenkreuzer wird entsprechend zwischen der Seele als Seelengrund und der Seelenpersönlichkeit unterschieden. In den äußeren Bereichen der Seelenpersönlichkeit spielen sich die Tätigkeiten der Seele ab. Hier treten die Ausdrucksformen ihrer weltlichen Aktivität wie Begehren, Gedächtnis und Wille in Erscheinung. Diese werden benötigt, damit die Seele den Erfordernissen ihrer Verbindung mit dem Körper genügen und mit den geschaffenen vergänglichen Dingen in Kontakt sein kann, um so Entwicklung zu ermöglichen. Nur in der Welt der Entwicklung sind Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis als Sinn der Schöpfung möglich.

Selbsterkenntnis als Gottesgeburt in der Seele

Über die vergänglichen und daher illusionären Aspekte seines Daseins kann der Mensch sich erheben, indem er sich dem zuwendet, was in ihm – das heißt in der Seele – göttlich ist. Dank Gottes Anwesenheit in der Seele ist ihre Selbsterkenntnis Gotteserkenntnis. Die hier gemeinte Gotteserkenntnis ist nicht eine reflektierende, in der ein Subjekt einem Objekt betrachtend gegenübersteht, sondern eine unmittelbare, in der keine Distanz zwischen dem Erkennenden und seinem göttlichen Erkenntnisobjekt besteht.

Die „Gottesgeburt“ in der Seele vollzieht sich ohne jegliche Vermittlung. Das muss geschehen ohne Mittel und jederart Vermittlung ist Gott fremd. Die Seele nimmt die Göttlichkeit ihrer eigenen Natur wahr und findet so Gott in sich selbst. Sie wird nicht etwas, was sie vorher nicht war, sondern erkennt sich als das, was sie jenseits von Zeit und Raum ist. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund des einzelnen Menschen aus und erfasst die Seele in ihrer Gesamtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweck der Schöpfung. Es handelt sich nicht um ein einmaliges oder punktuelles Ereignis, das zum Abschluss kommt, sondern um ein fortdauerndes Geschehen ohne Ende. Die Betonung der Prozesshaftigkeit dieses Geschehens ist ein besonderes Merkmal in Eckharts Mystik.

Abgeschiedenheit und heitere Gelassenheit

Die Gottesgeburt erfolgt nicht durch diskursiv gewonnene Einsichten in den Wahrheitsgehalt philosophisch-theologischer Lehrsätze, sondern durch die eigene Lebenspraxis. In diesem Sinne bemerkt Eckhart: „Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott.“ Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. Die Hinwendung zu Gott ist mit einem auf die Welt gerichteten Wollen und Begehren unvereinbar. Meister Eckhart spricht von einer Art Abgeschiedenheit. Der Seelengrund ist von Natur aus immer abgeschieden. Nur wenn der Mensch leer wird wie ein aufnahmebereites Gefäß, kann Gott die gesamte Seele ausfüllen.

Wer sich für Gott leer oder empfänglich machen will, hat alle Hoffnungen, Wünsche und Ziele, die sein eigenes Wohlergehen im Diesseits oder Jenseits bezwecken, aufzugeben. Der Mystiker vergisst sich selbst und alle Dinge. Damit verzichtet er auf seinen Eigenwillen. Alle Erwartungen und alle damit verknüpften Empfindungen verschwinden gänzlich. Dadurch werden Gemütsbewegungen wie Hoffnung, Furcht und Sehnsucht nicht aufgegeben, doch die Ebene der Identifikation ist eine andere.

Zu den Dingen, von denen der Mensch sich befreien soll, gehört in erster Linie er selbst. Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab; das ist das Allerbeste. Aufzugeben ist der Eigenwille nicht nur insoweit er auf das eigene Wohlergehen zielt, sondern auch in einer anderen seiner Erscheinungsformen, in welcher er scheinbar verschwunden ist, indem das Individuum seinen Willen mit dem Willen Gottes identifiziert hat. Zu wollen, was Gott will, ist aber immer noch ein Eigenwille und bildet als solcher ein Hindernis zwischen dem Menschen und Gott. Der Abgeschiedene will nicht das, was Gott will, sondern er will gar nichts, damit Gott in ihm wollen kann.

Auch das Streben nach der Ewigkeit und nach Gott, das den ursprünglichen Antrieb zum Beschreiten des Erkenntniswegs bildete, ist als Eigenwille abzustreifen. Wer die Ewigkeit und Gott begehrt, ist noch nicht richtig „arm“, d. h. aller Wünsche entblößt. Ein wahrhaft armer Mensch ist nur der, der nichts will und nicht begehrt. Er lässt nicht nur sich selbst los, sondern auch Gott.

Der Welt und dem Menschen zugewandt

Eckhart fordert, den Blick über die Welt zu erheben, die ausschließlich materielle, weltliche Sicht des Lebens zu überschreiten, d. h. die Konzentration auf den eigenen Seelengrund, wo Gott zu finden ist. Die damit erreichte Abgeschiedenheit äußert sich aber nicht als Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Der Mensch hat sich zwar auf der Suche nach Gott konsequent von der Welt abgewendet, aber Gott, den er in seinem Seelengrund gefunden hat und dem er die Herrschaft über sich restlos überlassen hat, ist der Welt und dem Menschen zugewandt.

Das äußert sich darin, dass der Abgeschiedene und Gelassene kein zurückgezogenes Leben führt, sondern ein aktives und soziales. Er vollbringt Werke, die seinen Mitmenschen zugutekommen. Im Unterschied zu denen, welche die Gottesgeburt nicht erlebt haben, verfolgt er damit nicht weltliche Ziele, sondern göttliche. Die Gottesgeburt verleiht allen Handlungen des so mit Gott verbundenen Menschen eine außerordentliche Bedeutung. Dadurch werden auch seine geringsten Taten weit über alles emporgehoben, was Menschen tun, die nicht auf diese Weise Gott zugekehrt sind.

Eckharts Ablehnung einer weltflüchtigen Haltung ergibt sich aus seiner Überzeugung, dass nicht die Dinge an sich Hindernisse sind, sondern nur ein verkehrtes Verhältnis des Menschen zu ihnen. Sünde ist eine willentliche Abkehr von Gott. Philosophisch ausgedrückt ist sie immer ein Zurückschreiten vom Einen zu den vielen Dingen. Das bedeutet, dass die Ordnung der Dinge aufgehoben wird und das Obere dem Niederen unterworfen wird. Dies wird rückgängig gemacht, indem man sich Gott wieder zuwendet. Es gilt also, die Welt in der eigenen gefühlsmäßigen Begegnung mit ihr zu überschreiten, das heißt die reale Welt als das zu akzeptieren, was immer sie sein mag, in einer ruhigen Geistesverfassung, mit Unerschütterlichkeit und Gleichmut. „Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann“ heißt es in der Desiderata, einem alten Rosenkreuzer-Manuskript

Eine wesentliche Botschaft von Eckharts Mystik ist die aktive Teilnahme des Einzelnen an den Geschehnissen der Welt. Der tiefste und tiefgründigste Ruf einer jeden Person besteht darin, Gottes Mitarbeiter und Gefährte zu sein, der aus Gott geborene Sohn, Ritter des Königs, Agent des Schöpfers. So scheint es möglich, Mystik aus jeder beliebigen charakteristischen religiösen Idee einzufangen und sie als eine Haltung dem Leben gegenüber sowie als eine Lebensweise zu betrachten; als eine Art, die äußeren und inneren Realitäten zu betrachten, sich ihnen anzunähern und mit ihnen umzugehen in einer Weise, deren wesentlicher Zug die Heiterkeit ist.

Wenn sich der Mensch einer inneren Arbeit hingeben will, muss er all seine Kräfte auf sich selbst konzentrieren, im tiefsten Inneren seiner Seele. Dann muss er sich von allen äußeren Bildern und Formen lösen. Er muss so weit kommen, sich zu vergessen und einen Zustand zu erreichen, in dem er sich seiner selbst nicht mehr bewusst ist. Er muss zu tiefer Ruhe und innerer Stille kommen, da, wo jene unaussprechliche Stimme gehört werden kann, die keine Worte hat. Denn wenn ein Mensch von nichts mehr Kenntnis hat, enthüllt und offenbart sich die Seele.

  Alexander Crocoll

Dr. rer. nat. Alexander Crocoll, geb. 1966, wissenschaftliche Arbeiten zur Genetik molekularer Embryologie. Seit 35 Jahren AMORC-Mitglied, heute Sekretär in der deutschen AMORC-Zentrale.
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FOTO: amorc

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