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letzte bisschen Freiheit nutzen

Wir waren einmal frei, und dann handelten wir, und seitdem sind wir in unserem Wollen und Entscheiden eingeschränkt. Dennoch gibt es eine Chance auf spirituelle Freiheit.

Die ganze Schöpfung lässt sich aus zwei Blickwinkeln betrachten: zum einen von oben, aus der Perspektive Gottes, und zum anderen von unten, aus der Perspektive des Menschen. Von oben gesehen erscheint der Göttliche Schöpfer als alleinige Realität und als die einzig wirkende Kraft. Das individuelle Lebewesen erscheint wie eine Marionette, die in den Händen des Puppenspielers diese oder jene Bewegung, diese oder jene Aufgabe ausführt. Aus dieser Sicht hat der Mensch keinen freien Willen, er führt ja nur den Willen des Göttlichen Puppenspielers aus, weshalb auch keine Verantwortung auf ihm lastet. Alles ist Gottes Spiel, ohne Warum und Wozu. Alle Heiligen beschreiben die Schöpfung aus dieser Perspektive, als eine Manifestation Gottes. Sie sehen überall nur Ihn am Werk.

Was von oben gesehen als ein einziger Wille erscheint, tritt dem Menschen, der mitten unter anderen Menschen lebt, als eine Vielfalt von Kräften gegenüber: Aus seiner Sicht hat es den Anschein, als hätte jeder einen eigenen Willen, der seinerseits andere beeinflusst und selbst von anderen beeinflusst wird. Deshalb hält sich das Individuum für den Handelnden und wird auf diese Weise für die Folgen seines Tuns verantwortlich. Jede seiner Handlungen prägt sich ihm als Abneigung oder Vorliebe in Gedächtnis und Gemüt ein und bindet ihn zunehmend an die materielle, mentale oder astrale Sphäre, in der er sich jeweils bewegt. So ist der einzelne Mensch in diesen Sphären zum Handeln gezwungen; zudem ist es ihm nicht möglich, sich den Auswirkungen seiner Handlungen zu entziehen. Denn da er sich als den Handelnden erfährt und betrachtet, muss er auch die Konsequenzen seines Tuns auf sich nehmen.

Der zunehmend eingeschränkte Wille

Der göttliche und der menschliche Standpunkt sind also komplementär. Die Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich lediglich aus dem Wechsel der Perspektive, von denen die eine ebenso richtig wie die andere ist. Aber wieviel Willensfreiheit bleibt da dem Menschen? Sind etwa alle seine Entscheidungen und Handlungen von vornherein festgelegt?

Bei dieser Frage ist es nötig, zu unterscheiden zwischen dem reinen Willen in seinem prinzipiellen Urzustand und dem in der Zeit konditionierten Willen: Ein Wille ist nur so lange frei, wie er nicht gehandelt hat. Wenn er einmal gehandelt hat, wirkt diese Handlung für ihn bindend. Wenn er dann ein zweites Mal handelt, tut er es nicht mehr als freier Wille, sondern als ein „überlegender Wille“, denn er trägt die Erfahrung der ersten Handlung mit sich. Und ein überlegender Wille ist kein freier Wille, sondern bereits ein eingeschränkter Wille. Die Schöpfungen oder Handlungen eines freien Willens wirken sich als ein begrenzender Faktor auf ihn aus und leiten ihn in seinen zukünftigen Handlungen. Je mehr Erfahrungen jemand gesammelt hat, desto mehr wird sein Wille von ihnen gelenkt und bestimmt: Er ist zunehmend festgelegt. So unterliegt der Mensch in seinem Lebenslauf immer mehr der Vorherbestimmung oder Prädestination.

Durch Erfahrungen festgelegt

Es gibt also keinen Widerspruch zwischen Vorherbestimmung, Schicksal, Karma und freiem Willen. Wir waren einmal frei. Wir handelten, und dann wurden unsere Handlungen bindend. Sie schränkten unsere ursprüngliche Freiheit ein. Sie wirken nun auf uns zurück als unvermeidliches Schicksal. Da unsere Erfahrungen komplex und vielschichtig sind, tauchen sie immer wieder in uns auf als Freuden und Ängste, Hoffnungen und Wünsche; diese wiederum formen unseren Verstand und Intellekt.

Verstand, Intellekt und Gefühle sind genau das, wozu wir sie durch unser eigenes Denken und Handeln gemacht haben; sie bestimmen jetzt unsere Handlungen und veranlassen uns, den vorherbestimmten Verlauf zu wählen. So bestimmen die Handlungen von einem Leben den Rahmen für das nächste Leben. Wie die Landwirte leben wir jetzt von dem Getreide, das wir zuletzt gesät haben, während wir heute den Boden vorbereiten und die Saat für die neue Ernte legen.

Ein kleiner Rest Freiheit

Obwohl es kein Entkommen vor unserem Schicksal gibt und obwohl wir uns immer tiefer im Netz der Bindungen verfangen, ist dennoch nicht alles verloren, wenn wir das bisschen Willensfreiheit, das uns verblieben ist, so verwenden, dass es zu unserer endgültigen Befreiung aus der sonst endlosen Kette von Wollen und Handeln führt. Wenn wir möchten, dass diese schon Jahrhunderte währende Wanderung von einem Leben zum anderen zu einem Ende kommt, so wird das geschehen, wenn wir den Weg der Befreiung wählen.

Der leichteste, der sicherste und in Wirklichkeit der einzige Weg heraus ist die Verbindung und Gemeinschaft mit jenen Menschen, die selbst die Befreiung erreicht haben: vollends Erwachte oder Heilige oder spirituelle Meister, die kraft ihrer meditativen Verbindung mit Gott frei von allen Bindungen sind. Sie weilen unter uns mit einem einzigen Auftrag: uns ebenfalls mit Gott in Verbindung zu bringen und uns so zur endgültigen Befreiung zu verhelfen. Dies ist der einzige und zugleich der universelle Weg zu spiritueller Freiheit.

Die zwei Geldverleiher

Diese Zusammenhänge kommen sehr schön in folgender Geschichte zum Ausdruck: Es war einmal ein Geldverleiher, der inständig nach einem wahren spirituellen Meister suchte. Eines Tages kam der heilige Nanak in seinen Ort und sprach zu den Menschen so überzeugend von Gott, dass er Vertrauen zu ihm fasste und sein Schüler wurde.

Sein bester Freund, der ebenfalls Geldverleiher war, fühlte sich auch von Nanak angezogen und so trafen sich die beiden eines Tages, um gemeinsam zu einer Versammlung Nanaks hinzugehen. Aber unterwegs sah Ram Das – so hieß der zweite Geldverleiher – eine Prostituierte, die er so schön fand, dass er bei ihr stehenblieb. Sein Freund versuchte ihn davon abzubringen: „Lass es! Das führt zu nichts! Willst du wirklich auf den Segen des Himmels verzichten? Nur um ein kurzweiliges Vergnügen willen?“ Aber seine Worte fruchteten nichts, so ging er allein weiter zur Unterweisung bei Nanak.

Nun passierte jeden Tag das Gleiche: Die beiden Freunde machten sich gemeinsam auf den Weg zu Nanak, aber Ram Das blieb immer im Freudenhaus hängen. Während der eine Geldverleiher immer tiefer in die Geheimnisse der Seele eindrang und das Ziel des Lebens jenseits der Sinne anzustreben begann, verstrickte sich Ram Das immer mehr in sinnliches Verlangen.

Als sein Freund eines Tages erneut auf ihn einredete, lachte Ram Das und antwortete: „Du gehst jeden Tag zum Heiligen und erwirbst dir dadurch großes Verdienst. Ich dagegen tue Schlechtes. Lass uns doch sehen, was uns heute infolge unseres Karmas blüht. Komm heute Abend bei mir vorbei, dann wollen wir die Ergebnisse vergleichen.“ So trennten sich die Freunde. Ram Das ging schnurstracks zur Prostituierten ins Bordell – aber sie war nicht da. So ging er ärgerlich nach Hause. Abends lief er ungeduldig in seinem Hof auf und ab, da stieß sein Spazierstock auf etwas Hartes in der Erde. Er grub die Stelle auf und entdeckte einen irdenen Topf. Der war voller Holzkohle, und darin fand Ram Das eine Goldmünze.

In diesem Augenblick traf sein Freund ein, er humpelte und hatte offensichtlich große Schmerzen. „Was ist mit dir passiert?“, fragte Ram Das. „So ein Pech, ich bin auf einen langen Dorn getreten“, antwortete dieser, „und der ist mir auch noch unter der Haut abgebrochen, was den Schmerz verdoppelt!“ Ram Das sagte lachend: „Jetzt siehst du, was du davon hast, zum Heiligen zu gehen! Ich dagegen habe das Glück gehabt, eine Goldmünze zu finden." seinem Freund kamen nun Zweifel, und er fragte sich, wie ein allmächtiger und gütiger Gott die Welt so schlecht regieren konnte, dass das Schlechte belohnt und das Gute bestraft wurde. Nachdem die beiden Freunde lange darüber diskutiert hatten, beschlossen sie, Nanak zu fragen.

Als Nanak ihre Geschichte gehört hatte, versenkte er sich in Samadhi und sah mit dem geistigen Auge die früheren Leben der beiden Männer und die jeweilige Verknüpfung von karmischer Saat und Ernte. Dann sprach er zu Ram Das: „In deinem letzten Leben, mein Freund, hast du aus Mitgefühl eine Goldmünze gespendet. Als Frucht dieser gütigen Tat war es dein Karma, in diesem Leben einen Topf voller Goldmünzen zu bekommen. Aber wegen deines liederlichen Lebenswandels verwandelte sich jeden Tag, an dem du dich der Ausschweifung hingabst, eine Münze in ein Stück Kohle. Heute Morgen hast du das Schlechte nicht getan, und infolgedessen konntest du die letzte Münze deines früheren Verdienstes noch ernten. Andernfalls wäre auch sie verkohlt.“

Und zu dem anderen Freund gewandt sagte Nanak: „Du warst in einem früheren Leben ein grausamer Tyrann, auf dessen Befehl Tausende von Menschen umgebracht wurden. Als Frucht dieser Taten hattest du dir verdient, in diesem Leben gefoltert und hingerichtet zu werden. Aber weil du dein Herz gereinigt und dich dem spirituellen Leben zugewandt hast, hast du die Wirkung deines Karmas täglich gemildert. Was hast du für all deine Morde zahlen müssen? Einen Dornenstich statt eines qualvollen Todes!“

Als die beiden Freunde diese Enthüllung ihrer Schicksalsfäden hörten, bereuten sie ihre schlechten Taten: Ram Das die gegenwärtigen, der andere die früheren. Von da an widmeten sich beide dem spirituellen Weg der Selbstläuterung und Meditation und erlangten bald das innere Licht des reinen Herzens.

 Sawan Singh

Sawan Singh (1858-1948), auch bekannt als "Der Große Meister" oder Bade Maharaji, war ein indischer Heiliger. Er war der zweite Satguru des Radha Soami Satsang Beas (RSSB) nach dem Tod von Baba Jaimal Singh im Jahr 1903 bis zu seinem eigenen Tod am 2. April 1948.

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FOTO: gettyimages

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