Magazin Visionen - Einfach. Besser. Leben.

Die wirklich Bescheidenen, sind die wirklich Glücklischen. Natürliche Einfachheit und Bescheidenheit geben dem spirituellen Sucher große Freiheit. Sie sind auch wichtige Schlüssel zum Glück.

Der Mensch kennt so viele Dinge, aber sich selbst kennt er nicht. Er hat so viel Wissen über die Welt angehäuft, hat Erfahrungen gesammelt, Pläne geschmiedet und Wünsche umgesetzt, dass dichte Schleier von diesen Eindrücken die Tiefen seines Herzens verdecken. Der Mensch lernt und verlernt sein ganzes Leben lang. Und für jene, die Gott näherkommen und mit Ihm eins werden wollen, ist es klüger, ein Lernender, ein Schüler zu bleiben, als ein Lehrer zu sein – ein Schüler des Mysteriums des Lebens.

An der Himmelstür

Es wird erzählt, dass ein Gottsucher, der nach dem Himmel forschte und überall umherwanderte, sich unversehens an der Himmelstür befand. Der Türhüter fragte ihn: „Wer bist du?“ Und er antwortete: „Ein Lehrer.“ Der Türhüter bat ihn zu warten und ging hinein, um zu berichten. Nach einer Weile kam er zurück und sagte, er könne ihn nicht einlassen, da es in der himmlischen Welt keinen Platz für Lehrer gebe. Es wurde ihm geraten, zurückzugehen und den Unrat der leeren Worte, der ihm anhafte, im Wasser des Schweigens wegzuwaschen. – So viele Lehrer sind stolz und eingebildet, geben mit ihrem Wissen an! Wie kann es im Himmel einen Platz für die geben, die in der Welt der Eitelkeit leben?

Nun saß er also täglich im Schweigen, hörte auf die Worte der Heiligen, und das Bewusstsein seines Selbst begann sich zu entwickeln. Er wurde demütig und betete darum, der Diener aller Menschen zu werden, der Einsamen und Niedrigen und der Tiere – ein Diener von Gottes Schöpfung. Wonach sich die Pforten des Himmels auftaten und er eintrat und das reine schöne Antlitz Gottes erblickte.

Bescheiden macht glücklich

Alle Meister der Vergangenheit und Gegenwart sagen, dass „das Reich Gottes für die demütigen Herzen ist“. Bedauerlicherweise sind so viele von uns stolz, in ihr Ego vertieft. Blind für die Weisheit, vom Ego beherrscht, wandern wir von einer Dunkelheit in die nächste. Setzt den Gott der Liebe auf den Thron eures Herzens und hört auf umherzuziehen und tut, was zu tun ist – werdet bescheiden wie der Staub der Erde!

Die wirklich Bescheidenen sind die wirklich Glücklichen. Aus Mangel an Bescheidenheit führen Männer und Frauen ein unerträgliches, unglückliches Leben. Dieses ganze Elend kommt von innen. Bescheidenheit bedeutet nicht zwangsläufig eine Änderung unserer Verhältnisse, sondern eigentlich eine Befreiung aus der Herrschaft des Ichs, des kleinen „Egos“, das uns tyrannisiert und uns der Glückseligkeit beraubt, die unser spirituelles Erbe als Kinder Gottes ist. Wir befinden uns mehr oder weniger im Käfig der stolzen Selbstbehauptung, und solange das Gefängnis nicht mit dem Schlüssel der Demut geöffnet wird, kann die Seele nicht frei auffliegen, um in die Regionen des Glanzes und der Freude zu gelangen.

Die Alchemie der Demut

Der Weg zur wahren Glückseligkeit ist der Weg der Demut und der Liebe. Wenn das Licht der Demut in der Seele aufdämmert, verschwindet das Dunkel und die Selbstsucht; die Seele lebt dann nicht länger für sich selbst, sondern für Gott. Die Seele verliert sich selbst in Gott, lebt in Gott und wird in Ihn verwandelt. Das ist die Alchemie der Demut. Sie verwandelt den Niedrigsten in den Höchsten.

Der große chinesische Weise Lao Tse brachte diesen Gedanken in sehr schönen Worten zum Ausdruck: „Warum sind die Ströme und Meere König aller Täler? Weil sie vortrefflich sind im Niedrigsein. Also auch der Weise: Wenn er über den Menschen sein will, stellt er sich in seinem Reden unter sie. Wenn er den Menschen vorangehen will, stellt er sich in seinem Ich hintan.“ (Tao Te King 66)

Jene, die stolz auf Geld, Wissen und Ansehen sind, würden zu keinem Heiligen gehen, wäre er nicht demütig; und auch wenn sie zu ihm gingen, würden sie sich selbst als ihm überlegen betrachten und würden nicht auf ihn hören. Ein Glas, das über einen Wasserhahn gehalten wird, bleibt leer; man muss es darunter halten. Man ist in seinem Wissen begrenzt; es ist also ratsam zu bedenken, was der andere zu sagen hat, denn man könnte vielleicht etwas von ihm lernen.

Ja, die Zweige eines fruchtbeladenen Baumes beugen sich unter ihrem eigenen Gewicht. Ebenso beugt sich der Mensch, dersich selbst verliert und dadurch Gott findet, vor allen und ehrt sie alle in seinem Herzen. Dies ist wahre Demut. Es ist keine erzwungene Erniedrigung. Ein solcher lebt mit allen in Einklang. Er ist in den anderen und die anderen sind in ihm.

Das Ego trennt uns

Es ist das falsche Ego-Selbst, das Disharmonie und Trennung verursacht. Ist die Täuschung des Egos aber gebannt, spürt man: „Ich bin nicht getrennt von den anderen, denn auch die anderen sind Teile des Einen Gottes und wir alle sind zum gleichen Dienst für Gott verpflichtet.“

Jeder von uns ist auf seine Weise einmalig. Dem Leben eines jeden, der in die Welt kommt, liegt eine göttliche Absicht zugrunde. Keiner ist für nichts geschaffen. Wir haben von jedem etwas zu lernen. Dies ist das Geheimnis der Demut.

Der wirklich bescheidene Mensch vergleicht sich nicht mit anderen. Er weiß, dass keiner von uns vollkommen ist, wie hochentwickelt er auch sei. Keiner von uns ist in sich selbst vollkommen. Der bescheidene Mensch betrachtet nicht den einen als besser als den anderen. Er glaubt an das Göttliche in jedem Einzelnen. Wenn einer sagt und behauptet, dass er besser sei als andere, ist er noch nicht vollkommen. Wer von sich selbst erfüllt ist, betrachtet sich selbst als über den anderen stehend und setzt sich somit selbst Grenzen. Gott ist grenzenlos. Wie kann das Unbegrenzte in das Begrenzte kommen?

Der Stolz der Demut

Der Mensch mag danach streben, demütig zu sein, aber trotz all seiner Bemühungen wird er immer stolzer. Es gibt so etwas wie den Stolz der Demut. Er ist eine sehr gefährliche Sache, denn er ist subtil, zu fein, um durch den Unerfahrenen erkannt zu werden. Es gibt welche, die sich sehr bemühen wollen, demütig zu sein; sie machen so die Demut unmöglich. Wie kann einer demütig sein, der die ganze Zeit darüber nachdenkt, wie er am besten demütig sein könnte? Ein solcher ist dauernd mit sich selbst beschäftigt. Wahre Demut bedeutet jedoch, frei zu sein von aller Ichbewusstheit, was frei sein von der Bewusstheit der Demut in sich schließt. Der wirklich Demütige weiß gar nicht, dass er demütig ist.

Der wirklich Demütige nimmt alles als von Gottes Händen kommend an. Er weiß, dass alles Gute in ihm von Gott stammt und das Lob, das die Menschen ihm aussprechen, in Wahrheit Gott gehört. Als der junge Mann Jesus einen „guten Lehrer“ nannte, sagte Jesus ruhig: „Warum mich gut nennen? Keiner ist gut außer Gott.“ So nimmt der wirklich Demütige das Lob, das ihm die Menschen geben, an und gibt es still an Gott weiter, ohne etwas für sich zu behalten.

Der nicht wirklich demütige Mensch benimmt sich auf sehr unnatürliche Art und Weise, wenn er von den Menschen nicht gelobt und geehrt wird. Er regt sich deswegen auf, verliert die Geduld und wird sogar ärgerlich. Manchmal unterdrückt er seine Gefühle und schweigt, aber er kann die Dinge, die von ihm gesagt wurden, nicht vergessen. Sie verfolgen ihn immer wieder und lassen ihn keinen Frieden finden.

Der Demütige macht nicht viel Aufhebens. Er lebt mit sich und anderen in Harmonie. Ihm ist ein wundersames Gefühl des Friedens eigen. Er fühlt sich sicher und wohlbehalten, denn er hat in Gott Zuflucht gefunden und die Stürme der wechselhaften Lebensumstände haben keine Macht mehr über ihn. Er fühlt sich so leicht wie die Luft. Die Lasten, die wir unser ganzes Leben mit uns tragen – die Lasten des Ichs und seine Wünsche – hat er abgelegt, und so ist er immer ruhig und heiter. Da er alles Wünschen aufgegeben und Gott überlassen hat, gibt es für ihn nichts zu verlieren, und doch gehört alles ihm, denn er ist von Gott, und Gott ist in ihm. Indem er die Bindung des Verlangens zerbrochen hat, ist er mit einem Stück trockenes Brot genauso zufrieden wie mit einem Luxusmahl. In jeder Situation und in allen Lebenslagen lobt und dankt er Gott.

Das Glück im Verborgenen

Einer, der demütig ist, betrachtet sich als einen ständig Lernenden. Er lernt viele neue Dinge, aber – was schwieriger ist – er verlernt vieles, was er gelernt hat. Wer den Weg der Demut geht, kommt nicht umhin, seine bisherige Lebensweise von Grund auf zu ändern: So mag er die Meinungen, die er sich gebildet oder übernommen hat, aufgeben und sich von den Konventionen, an die er sich gewöhnt hat, verabschieden. Er wird das Leben aus einer anderen Perspektive sehen und den Dingen, die andere hochschätzen, einen geringeren Wert beimessen. Seine Werte sind ganz anderer Natur, sind spiritueller Natur. Raffiniertes Essen, schöne Häuser, teure Kleidung, Macht- und Führungspositionen und Autorität, Auszeichnungen und der Beifall der Menschen haben für den wahren Demütigen keine Bedeutung mehr. Er fühlt sich zu einem einfachen Leben hingezogen. Er ist glücklich, ein verborgenes Leben im verborgenen Herrn zu leben.

 Sant Kirpal Singh

Sant Kirpal Singh (1894 bis 1974) wirkte seit 1948 als spiritueller Meister. Auf seinen Vortragsreisen und als langjähriger Präsident der „Weltgemeinschaft der Religionen“ erwarb er sich im Osten wie im Westen große Achtung und Sympathie.

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Foto(s): gettyimages

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