Paramahansa Yogananda kam im Jahre 1920 in den Westen. Im selben Jahr gründete er die Self-Realization Fellowship, um seine Kriya-Yoga-Lehre zu verbreiten. Heute führt diese Gemeinschaft sein spirituelles und humanitäres Werk von ihrem internationalen Hauptsitz in Los Angeles aus fort.
Die „Autobiographie eines Yogi“ von Paramahansa Yogananda galt seit der ersten Veröffentlichung vor 75 Jahren als grundlegende Einführung in die indische Wissenschaft der Yoga-Meditation. Im folgenden Auszug aus diesem Werk beschreibt Paramahansa Yogananda einen der denkwürdigsten Tage seines Lebens, als er von seinem Guru, Swami Sri Yukteswar Giri, in den Swami-Orden eingeweiht wurde.
Der Herzenswunsch wird erfüllt
„Mukunda!“, ertönte Sri Yukteswars Stimme von einem entfernt gelegenen Balkon.
Ich war ebenso rebellisch wie meine Gedanken. „Der Meister hält mich immer zum Meditieren an“, murmelte ich vor mich hin, „dann soll er mich auch nicht stören, wenn er weiß, warum ich in dieses Zimmer gekommen bin.“ Kurz darauf rief er mich wieder, aber ich schwieg hartnäckig. Beim dritten Mal jedoch klang seine Stimme vorwurfsvoll. „Meister, ich meditiere!“, rief ich protestierend. „Ich weiß, wie du meditierst“, rief mein Guru zurück. „Deine Gedanken flattern wie Blätter im Sturm umher. Komm jetzt zu mir herüber!“ Ich fühlte mich bloßgestellt und ging traurig und enttäuscht zu ihm hin. „Armer Junge, die Berge können dir nicht geben, wonach du dich sehnst“, sagte der Meister tröstend und voller Zärtlichkeit. Sein Blick war still und unergründlich, als er fortfuhr: „Dein Herzenswunsch soll erfüllt werden!“
Erweiterung des Bewusstseins
Sri Yukteswar sprach selten in Rätseln, und so wusste ich nicht, wie ich seine Worte verstehen sollte. Da schlug er mir oberhalb des Herzens sanft auf die Brust.
Sogleich stand ich wie festgewurzelt da. Der Atem wurde mir, wie von einem gewaltigen Magneten, aus der Lunge gesogen. Geist und Seele sprengten augenblicklich ihre irdischen Fesseln und strömten gleich einer blendenden Lichtflut aus jeder Pore meines Körpers. Das Fleisch fühlte sich wie abgestorben an, und dennoch war ich im Besitz intensiver Wahrnehmungskraft und wusste, dass ich nie so lebendig gewesen war. Mein Ichbewusstsein beschränkte sich nicht mehr auf den Körper, sondern umfasste alle mich umgebenden Atome. Menschen aus fernen Straßen tauchten plötzlich in meinem Blickfeld auf, das sich ins Unermessliche erstreckte. Die Wurzeln der Pflanzen und Bäume schimmerten durch den transparent gewordenen Boden hindurch, und ich konnte den inneren Saftstrom erkennen. Die ganze nähere Umgebung lag unverhüllt vor mir da. Meine gewöhnliche Sicht erweiterte sich zur unermesslichen sphärischen Sicht, sodass ich alles gleichzeitig wahrnehmen konnte. Durch meinen Hinterkopf sah ich einige Menschen bis zum Ende der Rai-Ghat-Gasse hinuntergehen und bemerkte u. a. eine weiße Kuh, die sich gemächlich unserem Haus näherte. Als sie das offene Tor des Ashrams erreicht hatte, sah ich sie wie mit meinen physischen Augen. Auch als sie hinter der Ziegelmauer des Hofes verschwand, konnte ich sie immer noch genau erkennen.
Alle Gegenstände innerhalb meines panoramischen Blickfeldes zitterten und vibrierten wie Filmbilder. Mein Körper, der Körper des Meisters, der von Säulen umstandene Hof, die Möbel und der Fußboden, die Bäume und der Sonnenschein begannen sich zeitweise heftig zu bewegen, bis sie sich alle in einem leuchtenden Meer auflösten – ähnlich wie Zuckerkristalle in einem Glas Wasser zergehen, wenn das Glas geschüttelt wird. Das vereinigende Licht und die sich materialisierenden Formen wechselten ständig miteinander ab – eine Metamorphose, die mir das im Universum herrschende Gesetz von Ursache und Wirkung vor Augen führte.
Glückseligkeit und Glanz
Eine überwältigende Freude ergoss sich über die stillen, endlosen Ufer meiner Seele. Ich erkannte, dass der göttliche Geist unerschöpfliche Glückseligkeit ist und dass Sein Körper aus zahllosen Lichtgeweben besteht. Die sich in meinem Inneren ausbreitende Seligkeit begann Städte, Kontinente, die Erde, Sonnen- und Sternsysteme, ätherische Urnebel und schwebende Universen zu umfassen. Der ganze Kosmos flimmerte wie eine ferne, nächtliche Stadt in der Unendlichkeit meines eigenen Selbst. Das blendende Licht jenseits der scharf gezeichneten Horizontlinie verblasste leicht an den äußeren Rändern und wurde dort zu einem gleichbleibenden, milden Glanz von unsagbarer Feinheit. Die Bilder der Planeten dagegen wurden von einem gröberen Licht gebildet.
Die göttlichen Strahlen flossen aus einem ewigen Quell nach allen Richtungen und bildeten Milchstraßensysteme, die von einem unbeschreiblichen Glanz verklärt wurden. Immer wieder sah ich, wie sich die schöpferischen Strahlen zu Konstellationen verdichteten und sich dann in ein transparentes Flammenmeer auflösten. In rhythmischem Wechsel gingen Abermillionen Welten in diesem durchsichtigen Glanz auf – wurde das Feuer wieder zum Firmament. Ich fühlte, dass das Zentrum dieses Lichthimmels in meinem eigenen Herzen lag – dass es der Kern meiner intuitiven Wahrnehmung war. Strahlender Glanz ergoss sich aus diesem inneren Kern in jeden Teil des Universums. Segensreiches Amrita, der Nektar der Unsterblichkeit, pulsierte gleich einer quecksilbrigen Flüssigkeit in mir. Ich hörte das Schöpferwort OM, den Laut des vibrierenden Kosmischen „Motors“.
Zurück an die Arbeit
Plötzlich kehrte der Atem in meine Lunge zurück. Mit fast unerträglicher Enttäuschung fühlte ich, dass ich meine Unermesslichkeit verloren hatte. Wiederum sah ich mich in einem elenden, körperlichen Käfig eingesperrt, der sich nur schwer zum Geist aufzuschwingen vermag. Gleich einem verlorenen Sohn war ich aus meiner makrokosmischen Heimat fortgelaufen und hatte mich im beengenden Mikrokosmos eingeschlossen.
Mein Guru stand unbeweglich vor mir. Ich wollte ihm aus Dankbarkeit für das Erlebnis des kosmischen Bewusstseins, das ich seit langem leidenschaftlich herbeigesehnt hatte, zu Füßen fallen. Er aber fing mich auf und sagte ruhig: „Lass dich nicht zu sehr von der Ekstase trunken machen. Für dich gibt es noch viel Arbeit in dieser Welt. Komm, wir wollen den Balkon fegen und dann zum Ganges hinuntergehen.“
Ich holte einen Besen herbei, denn ich verstand, dass der Meister mich das Geheimnis eines ausgeglichenen Lebens lehren wollte. Die Seele muss sich über kosmogonische Abgründe hinwegschwingen können, während der Körper seinen täglichen Pflichten nachgeht.
In ständiger Verbindung
Als ich etwas später mit Sri Yukteswar spazieren ging, befand ich mich noch immer in einem Zustand unbeschreiblicher Entrücktheit. Unsere beiden Körper glichen zwei Astralbildern, die sich an einem Strom aus reinem Licht entlangbewegten.
Alle Formen und Kräfte im Universum werden allein vom Geist Gottes belebt und aufrechterhalten; dennoch befindet Er sich in der glückseligen, unerschaffenen Leere jenseits der vibrierenden Welt der Erscheinungen, wo er uns fern und transzendent scheint“, erklärte der Meister. „Wer hier auf Erden Selbst-Verwirklichung erlangt hat, führt ein ähnliches Doppelleben. Er erfüllt gewissenhaft seine Aufgaben in der Welt, bleibt dabei aber stets in innere Glückseligkeit versunken.
Gott hat alle Menschen aus der grenzenlosen Freude Seines eigenen Seins erschaffen. Obgleich die Menschen, die Er sich zum Bilde geschaffen hat, in einen Körper eingezwängt worden sind, erwartet Gott dennoch, dass sie sich dereinst über alle Sinnestäuschungen erheben und sich wieder mit Ihm vereinigen.“
Den Geist zur Ruhe bringen
Ich zog viele unvergessliche Lehren aus meiner kosmischen Vision. Jeden Tag brachte ich nun meine Gedanken zum Schweigen und machte mich innerlich frei von der trügerischen Vorstellung, dass mein Körper eine Masse von Fleisch und Knochen sei, die sich über den festen Boden der Materie bewegt. Ich erkannte, dass der Atem und der ruhelose Geist Sturmwinden gleichen, die das Meer des Lichts aufpeitschen und die stofflichen Wellen – Erde, Himmel, Menschen, Tiere, Vögel und Bäume – hervorrufen. Nur wer diesen Sturm stillt, kann das Unendliche als das all-einige Licht wahrnehmen.
Jedes Mal, wenn ich diese beiden natürlichen Sturmwinde vollkommen zur Ruhe gebracht hatte, sah ich die vielgestaltigen Wellen der Schöpfung in ein leuchtendes Meer zerfließen – ähnlich wie sich die bewegte See nach dem Sturm wieder glättet.
Ein Meister verleiht seinem Jünger das Erlebnis des kosmischen Bewusstseins erst dann, wenn dieser seinen Geist durch Meditation so weit gefestigt hat, dass ihn die unermessliche innere Schau nicht mehr überwältigt. Verstandesmäßige Bereitschaft und geistige Aufgeschlossenheit allein genügen nicht. Nur eine entsprechende Ausdehnung des Bewusstseins, die man durch Yoga und hingebungsvolle Bhakti erlangt, kann einen darauf vorbereiten, den befreienden Schock der Allgegenwart zu ertragen. Dieses göttliche Erlebnis wird jedem aufrichtigen Gottsucher unweigerlich einmal zuteilwerden. Sobald seine Sehnsucht nach Gott so intensiv und magnetisch wird, dass er Ihn in seinen Bewusstseinsbereich ziehen kann, wird er Ihn als Kosmische Vision schauen können.
Paramahansa Yogananda
Information & Inspiration
Der obige Auszug ist aus dem 14. Kapitel der „Autobiographie eines
Yogi“ von Paramahansa Yogananda (Self-Realization Fellowship, Los
Angeles, Kalifornien, USA). Alle Rechte vorbehalten.
https://yogananda.org/de/