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Meditieren geht über Studieren

Heute ist eine begeisternde Vielfalt von Büchern und Schriften über die mystische Einigung zugänglich. Aber sie nützen uns wenig, wenn wir sie nicht in die Praxis umsetzen können…

Bücher, die von Wert sind, vermitteln die Erkenntnisse und Erfahrungen von Menschen, damit andere davon einen Nutzen haben. Wenn jemand z. B. Chemie erlernen will, studiert er Bücher über Chemie, um mehr darüber zu erfahren. Wenn er aber direkt von einem Chemiker Unterricht erhält, begreift er die Sache besser. Wenn er außerdem in einem Labor zu experimentieren beginnt, wird er sich wiederum ein noch besseres Wissen über dieses Thema aneignen. Wenn er schließlich die Experimente unter der Anleitung eines erfahrenen Chemikers durchführt, wird er manches Problem vermeiden und in entsprechender Zeit ein Chemiker werden.

Bücher allein werden den Lernenden nicht auf dieses Niveau bringen. Ein Buch über Chemie mag außerdem dem einen Studenten zusagen, einem anderen aber nicht, weil die Veranlagung der beiden nicht dieselbe ist. Der eine hat vielleicht analytische Fähigkeiten entwickelt, während beim anderen die synthetischen Fähigkeiten vorherrschen. Deshalb kann ein Buch, egal auf welchem Gebiet, nicht alle gleichermaßen befriedigen. Der Autor hat es von dem Standpunkt aus geschrieben, der seinem Wesen und seinem Wissensstand aktuell entspricht, und es wird nur denen zusagen, die etwas von denselben Eigenschaften haben wie er. Zudem mag ein und dasselbe Buch jemandem das eine Mal zusagen, und ein anderes Mal gefällt es ihm nicht, denn der Mensch ist ein sehr wandelbares Wesen, und sein Intellekt ist ein sehr veränderliches Element.

Sprachliche Hürden

Hinzukommt die Schwierigkeit des genauen sprachlichen Ausdrucks einerseits und des rechten Verstehens andererseits. Man kann einem, der nur Ochsenkarren als Transportmittel kennt, keine richtige Vorstellung von einem Auto vermitteln. Und so wie Vorstellungen von materiellen Dingen nicht klar und korrekt durch Worte vermittelt werden können, ist es genauso unmöglich, korrekte Vorstellungen von nichtmateriellen Dingen, wie mentale und spirituelle Erfahrungen, Menschen zu vermitteln, die noch nie solche Erfahrungen gehabt haben. Trotzdem sind die mentalen und spirituellen Erfahrungen auf den mentalen und spirituellen Ebenen ebenso wahr wie die Erfahrungen jedes Menschen auf der physischen Ebene.

Aus diesen Gründen können Bücher nur wenig übermitteln und werden oft missverstanden. Je kritischer man die Bücher prüft, desto mehr Unstimmigkeiten und Widersprüche findet man – und das führt zu Enttäuschung und Unruhe. Daher die Notwendigkeit, Kontakt mit einem lebenden Lehrer zu haben, der Missverständnisse richtigstellen kann; ebenso die Notwendigkeit, sein angelesenes theoretisches Wissen durch praktisches Erleben in persönliche Erkenntnis umzuwandeln. Bücher sind nun einmal mangelhaft und nur begrenzt nützlich.

Den Zentralgedanken erfassen

Es mag verwunderlich klingen, aber der Mensch selbst ist ein vollkommenes Buch, denn nicht nur kommen alle Bücher aus ihm, sondern in ihm ist der Schöpfer mit Seiner ganzen Schöpfung. Während das Bücherstudieren dem forschenden Intellekt Information aus zweiter Hand über den Menschen und die Welt liefert, bringt das Studium dessen, was in uns selbst liegt, eine direkte Information aus erster Hand. Warum also nicht in uns selbst eintreten und sehen, was dort ist?

Wollen wir irgendeinen Nutzen aus der Lektüre spiritueller Bücher haben, müssen wir die Zentralgedanken, auf denen das Buch aufgebaut ist, erkennen und verstehen. Wenn man spirituelle Abhandlungen und heilige Schriften in diesem Geist untersucht, wird man feststellen, dass die Kernidee, der Zentralgedanke, von allen Religionen und spirituellen Schulungswegen das meditative Hören auf die „Stimme Gottes“, auf den Göttlichen Urklang oder Klangstrom ist. Es werden in den verschiedenen Schriften viele verschiedene Namen gebraucht, um diesen zentralen Sachverhalt auszudrücken. Aber Jesus Christus, der Prophet Mohammed und die Rishis der Veden praktizierten und lehrten alle das Gleiche. Sie haben selbst diesen Göttlichen Strom bis in verschiedene Höhen erforscht, haben sich auf ihm in höhere geistige Ebenen erhoben. Der Grundgedanke all ihrer Lehren ist dieser Klangstrom.

Die sprachliche Ausdrucksweise, in der dieser Grundgedanke dargeboten wird, hängt natürlich vom Ort und den Menschen ab, unter denen die spirituellen Meister wirken, von ihren Sitten und ihrer Kultur, von ihrem intellektuellen Begriffsvermögen sowie dem Grad ihrer spirituellen Entwicklung. Und da sich die Sitten und Sprachgewohnheiten mit der Zeit ändern, sind ihre Bücher heute nicht mehr zeitgemäß. Deshalb die Notwendigkeit, denselben Zentralgedanken vom Göttlichen Urklang immer wieder neu zu formulieren. Die Botschaft muss der Zeit und den Menschen, denen sie angeboten wird, angepasst sein.

Quelle des Lebens

Dieser Göttliche Klang ist im Menschen gegenwärtig – in jedem Menschen. Er ist von Natur aus im Menschen, er wird nicht künstlich erzeugt. Er kann weder geändert oder umgewandelt, noch kann etwas hinzugefügt oder abgezogen werden. Alles andere in der Welt ist wandelbar und ändert sich fortlaufend, nicht aber dieser Ur-Klangstrom. Er ist eine Emanation oder Welle des großen Ursprungs von Allem – des höchsten Schöpfers, mit welchem Namen auch immer man von Ihm sprechen will. Jeder Einzelne ist ein Funken oder Tropfen aus diesem einen unendlichen Ursprung.

Der Schöpfer ist als Quelle und Ursprung an der Spitze dieses Klangstroms, und die einzelne Seele ist am anderen Ende; der Strom stellt also ein Verbindungsglied zwischen ihnen dar. Durch diesen Strom wird das Leben, ja die Existenz eines jeden Lebewesens aufrechterhalten. Der Mensch empfindet keine Verbindung mit dem Klangstrom wegen der dicken Schleier aus Gemüt und Materie, die seine Seele an diesem Ende umhüllen. Es gibt ihn aber – im Menschen und in allen Formen der Schöpfung, im Brennpunkt hinter und zwischen den Augen, von wo er den ganzen Körper unterhalb der Augen durchdringt und dann durch die verschiedenen Sinnesorgane aus dem Körper hinausgelangt. Um den Göttlichen Klangstrom zu ergreifen, muss man Herr sein über die zerstreute und zerstreuende Aufmerksamkeit der Seele. Sie muss im Brennpunkt hinter den Augen gehalten werden, wo die Verbindung mit den astralen und geistigen Ebenen hergestellt wird und wo sie immer weiter aufsteigt und schließlich mit ihrem Ursprung am anderen Ende verschmilzt.

Rückkehr aus der Zersteuung

Das Wichtigste ist daher zuerst, dass wir dieses „Labor“ in uns betreten, indem wir unsere zerstreute Aufmerksamkeit in den Augenbrennpunkt bringen. Für die meisten ist diese konzentrierte Sammlung in einem Punkt ein schwieriges Unterfangen, sie ist aber eine unerlässliche Voraussetzung für den Aufstieg. Wenn nicht wir unsere Gedanken bändigen und beherrschen können, wer soll es sonst tun?

Es gibt viele Wege, das zu erreichen, aber aus der Praxis heraus sagen die Heiligen, dass die „Wiederholung“ einer geladenen geistigen Formel – wie bei der Einführung oder Initiation erklärt – der beste und wirksamste wie auch der einfachste Weg ist. Wenn Gedanken an die materielle Welt uns aus dem Brennpunkt herausholen, lenken uns Gedanken an die innere Welt in diese Richtung. Wenn wir im Brennpunkt gesammelt sind, haben wir uns von der materiellen Welt gelöst und stehen an der Schwelle zur astralen Welt. Wir haben auch unsere materielle Form abgelegt und sind vom gleichen Stoff wie die astrale Welt und nun in der Lage, dort tätig zu sein. Dieselbe Aufmerksamkeit, die in der materiellen Welt wirkte, kann nun in der astralen Welt arbeiten. Und so, wie wir diese untere materielle Welt „wirklich“ nennen, werden wir die astrale Welt als genauso wirklich oder sogar noch wirklicher erleben, als wir diese jetzt empfinden.

Nachdem sie die astrale Ebene erreicht hat, heftet sich dieselbe Aufmerksamkeit, die zunehmend von materiellen Schlacken befreit wird, an den Klangstrom; sie wird weiter gereinigt und steigt an ihm auf, um die geistigen Ebenen zu erreichen. Mit jedem Schritt, den man im Geist nach oben vorankommt, legt die Seele die Schleier aus Gemüt und Materie ab und erwacht aus ihrem uralten tiefen Schlummer.

Wir können diesen Sachverhalt auch anders beschreiben: Der Schöpfer ist das Sein, Wissen und Freude oder Kraft, Weisheit und Liebe. Ein Atom oder Funken von diesem Leben ist die Seele, die, von ihren Hüllen aus Gemüt und Materie umgeben, den einzelnen Menschen darstellt. Wenn die Hüllen vom Menschen entfernt würden, wäre die Seele unbedeckt und imstande, ihren Schöpfer zu erkennen. Der Mensch wird sich selbst erkennen, wird „Selbsterkenntnis“ erlangen und wird dann wiederum seinen Schöpfer erkennen.

Der Einzelne ist in seiner jetzigen Verfassung unfähig zu verstehen, was am Ursprung geschah bzw. geschieht. Die Heiligen, die von dorther kommen und nach Belieben Zugang dorthin haben, wissen, was dort vor sich geht, können aber ihre Kenntnisse aus besagten Gründen nicht adäquat vermitteln. Heilige oder vollendete spirituelle Meister wollen den fragenden Sucher nicht mit bloßen Worten abspeisen, sondern sie bieten ihm an, ihn an das andere Ende, zum Göttlichen Ursprung, zu bringen und ihm so Wissen aus erster Hand zu ermöglichen.

 Sawan Singh

„Baba“ Sawan Singh (1858-1948) lehrte den Pfad des inneren Lichts und Klangs. In zahlreichen Briefen und Gesprächen erläuterte er seinen Schülern in einfacher, lebensnaher Form die Grundlagen der Spiritualität.

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FOTO: gettyimages

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