Magazin Visionen - Einfach. Besser. Leben.

Es gibt eine in der Spiritualität vielfach missverstandene Warnung: „Keuschheit ist Leben, Sinnenlust ist Tod!“ Das klingt hart, enthält aber einen wertvollen Fingerzeig. Denn es geht hier um das Leben und Gedeihen der Seele.

„Keuschheit ist Leben, Sinnenlust ist Tod“, heißt es, aber was ist unter Keuschheit zu verstehen? Keuschheit ist nicht allein sexuelle Enthaltsamkeit. Keuschheit im spirituellen Sinn meint die Freiheit der Seele von materiellen Bindungen und Wünschen. Denn sie ist ihrem Wesen nach Geist, und ihre letzte Bestimmung ist die Wiedervereinigung mit Gott, und Gott ist die Quelle des Lebens. Demnach bedeutet „Unkeuschheit“ im spirituellen Sinn die lustvolle Verbindung der Seele mit den Erscheinungen der materiellen Welt mittels der Sinne. Und das zerstört ihre Integrität. 

Im Kontext der spirituellen Schulung geht es bei der Warnung vor Sinnenlust nicht um die Unterdrückung des Sexualtriebs, auch nicht um ein Verbot irdischer Freuden, sondern um den achtsamen, bewussten Gebrauch der Sinne. Ziel ist es, die Freiheit der Seele von materiellen Eindrücken zu erhalten.

Fünf Leidenschaften oder Laster

Unkeuschheit im spirituellen Sinn ist eine Folge der fünf sogenannten Leidenschaften oder Laster: Sinneslust (Genuss, Vergnügen), Anhaften (Bindung, Abhängigkeit), Stolz (Ego), Ärger und Gier. Alle diese Leidenschaften sind von großer Macht und treiben uns zu sehr schädlichem, leidvollem Karma (Taten) an.

Um seines Vergnügens willen schreckt der Mensch auch vor Gräueltaten nicht zurück, etwa wenn er aus Spaß Tiere jagt und erlegt, oder wenn er Tiere tötet, um sie zu verzehren. Es gibt noch viele andere Beispiele für die menschliche Vergnügungssucht – Ausschweifungen im Konsum von Essen, Drogen, Alkohol, Sexualität und dergleichen; sie alle ziehen ein sündhaftes Leben nach sich. 

Die zweite Leidenschaft ist das Anhaften oder die Abhängigkeit von Dingen oder Menschen. Wir können uns leicht vorstellen, wohin sie führt. Dazu eine Lehrgeschichte:

Ein Bauer, der sehr an seiner Familie hing, hatte drei Söhne. Nach einigen Jahren starb er. Aber da er sich von seiner Familie nicht lösen konnte, wurde er im folgenden Leben als Kalb wiedergeboren. Als das Kalb zu einem Ochsen herangewachsen war, kam ein Heiliger des Wegs und bot ihm an: „Ich möchte dich zur Befreiung (Moksha) führen, und in Anbetracht deiner Lage wirst du wohl nichts dagegen einzuwenden haben.“ Der Ochse antwortete: „Als ich noch ein Mensch war, ging mir meine Familie über alles. Damals habe ich sehr darunter gelitten, dass wir unbrauchbare Ochsen hatten, sodass wir unseren Bauernhof nur mit Mühe bewirtschaften konnten. Ich habe mich so sehr mit den Ochsen befasst, dass ich schließlich selbst einer wurde. Und da es nun einmal so ist, möchte ich dieses Leben noch ein Weilchen weiterführen, um meiner Familie zu helfen. Danach will ich mich gern um meine Erlösung kümmern.“

Nach einigen Jahren starb der Ochse und wurde als Hund wiedergeboren. Und da seine Seele noch immer an seine Familie gebunden war, verbrachte der Hund seine ganze Zeit damit, vor dem Haus zu sitzen und sie zu bewachen. Da kam der Heilige erneut vorbei und sprach zu ihm: „Da du als Hund deiner Familie nicht mehr so gut helfen kannst wie in deiner letzten Inkarnation, wirst du doch sicher jetzt die Erlösung wollen?“ Der Hund antwortete: „Ich lebe nun als Hund, weil ich in meinem letzten Leben fortwährend um die Sicherheit meiner Familie besorgt war. Darum möchte ich nun gerne weiter auf sie Acht geben, damit ihr nichts passiert. Die Erlösung kann ich ja immer noch im nächsten Leben bekommen.“

Nach ein paar Jahren starb der Hund und wurde als Frosch wiedergeboren. Und wieder kam der Heilige vorbei und fragte: „Willst du denn nicht wenigstens jetzt die Erlösung, wo du nicht mehr als Wachhund arbeiten kannst und deine Familie nicht den geringsten Nutzen von dir hat?“ Doch der Frosch wies ihn unwirsch zurück: „Was geht dich das an? Ich tue doch nur meine Arbeit und passe auf meine Familie auf. Ich hocke hier friedlich in meinem Sumpf und tue niemandem etwas zuleide – was willst du überhaupt von mir?“ 

Derartiges Anhaften, solche Bindungen wirken zerstörerisch auf die Seele und führen sie immer tiefer in den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt hinein.

Ego, Zorn und Gier

Als nächstes erhebt sich das Ego, Ich-Gefühl, voller Stolz um sich selbst kreisend. Ein egoistischer, selbstsüchtiger Mensch nützt weder sich selbst noch seiner Familie oder seinen Freunden.

Groll und Zorn wirken wie ein schwelendes Feuer, das nicht nur den Betreffenden selbst verzehrt, sondern auch die Menschen in seiner Umgebung. 

Dass ein gieriger Mensch nie zufrieden ist, ist wohlbekannt. Dazu möchte ich die Geschichte vom habsüchtigen Bettler als Beispiel anführen: Es war einmal ein Bettler, dem es kaum gelang, so viel zusammenzubetteln, wie er zum Leben brauchte. Eines Tages hatte er eine Idee: Er würde gleich am frühen Morgen auf Betteltour gehen, weil die Herzen der Menschen zu dieser Stunde noch nicht so verhärtet waren wie später am Tag. Zuvor bat er seine Frau aber um eine Wegzehrung, die ihm Glück bringen und ihm helfen sollte, sein Säckel ordentlich zu füllen. Sie gab ihm zwei Handvoll Reis, und er machte sich auf den Weg. 

Er hatte eben das Haus verlassen, als er sah, wie der König in seiner Kutsche herangefahren kam. „Welch ein Glückstag!“ dachte er und dankte Gott, denn er rechnete sich aus, dass der König ihm sicher nicht bloß ein paar magere Pfennige zuwerfen würde, sondern eine echte Gold- oder Silbermünze. Als die Kutsche bei ihm angelangt war, hielt sie plötzlich an. Heraus stieg der König – und bat den Bettler zu dessen großer Überraschung um eine milde Gabe! Verdutzt stotterte der Bettler: „Ihr seid der König, es mangelt Euch an nichts, warum benehmt Ihr Euch wie ein Bettler?“ Der König erklärte: „Das ist Teil eines religiösen Rituals, das ich vollziehen will. Mein Priester hat mir aufgetragen, um Almosen nachzusuchen, damit ich mein Ego überwinde. Mit dem, was ich in Form von Naturalien erhalte, muss ich eine Mahlzeit zubereiten und sie anschließend verzehren. Erst dann darf ich mit dem Ritual beginnen.“ Widerwillig gab ihm der Bettler eine Handvoll Reis aus seinem Beutel und dachte bei sich: „O Gott, was habe ich heute nur für ein Pech! Sogar der König ist unter die Bettler gegangen! Und was wird nun aus mir?“
Als der Bettler am Abend nach Hause kam, war sein Bündel prall gefüllt. „Du hast es aber heute gut getroffen“, lobte ihn seine Frau, doch er fuhr sie an: „Was redest du da! Ich hatte einen ziemlich schlechten Tag.“ Seine Frau widersprach: „Du hast allen Grund, dankbar zu sein, dass Gott dich heute so reich beschert hat.“ – „Ach was“, polterte der Mann, „das Einzige, was er mir heute beschert hat, war dieser komische König, der mir eine Handvoll Reis abgeknöpft hat!“ Als sie jedoch sein Bündel öffneten, fanden sie darin eine Handvoll Reis aus purem Gold. Seine Frau fragte erstaunt: „Woher kommt denn das?“ Da fiel dem Bettler nach einigem Nachdenken ein, dass der König den Reis für einen religiösen Zweck benötigt hatte – darum hatte er sich nun in Gold verwandelt. Da brach der Bettler in Tränen aus und beklagte lauthals sein Schicksal: „O Gott, was war ich doch für ein Narr! Hätte ich ihm doch nur den ganzen Reis gegeben, dann hätte ich jetzt doppelt so viel Gold!“

Sexualität und Karma

Wie wir sehen, verderben alle dieser Leidenschaften – Sinneslust, Anhaften, Ego, Ärger und Gier – die Integrität der Seele und entfernen uns immer weiter von einem gottgefälligen Leben. Aber wir können uns nicht von ihnen befreien. Denn während wir in dieses Leben eingetreten sind, um unsere früheren karmischen Schulden abzutragen, schaffen wir uns unter ihrem Einfluss ständig neue. Anstatt ein spirituell keusches, d. h. auf Gott ausgerichtetes Leben zu führen, gehen wir immer mehr in die Irre. 

Bei genauerem Hinsehen werden wir aber feststellen, dass die Wurzel all dieser Übel die Sinneslust ist – die „Fleischeslust“, wie es der Apostel Paulus formuliert. Der Begriff „Fleischeslust“ meint nicht nur die geschlechtlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau, sondern ist mehr als Sexualität. Jede Handlung, die eine der schädlichen Leidenschaften lostritt, wurzelt in der Sinneslust, im Wunsch nach Genuss. Obwohl der Begriff der Fleisches- oder Sinnenlust vielfach auf die Bedeutung von „Sexualität“ reduziert wird, bezeichnet er ursprünglich alles, was zu irgendeiner Art von diesseitiger Bindung führt, und beinhaltet alle Freuden, die mittels der Sinne erfahren werden. 

Manche Leute sind der Meinung, auch das eheliche Geschlechtsleben gehöre in diese Kategorie. Das mag sein, obgleich ich mir da nicht so sicher bin. Eines aber ist gewiss: Ehen werden im Himmel geschlossen. Und da das ganze Leben bereits vor der Geburt geplant und vorherbestimmt ist, sind auch die ehelichen Beziehungen eines Paares ein Teil des göttlichen Plans. Sie dienen dem Ausgleich alten Karmas und sind nicht von vornherein als Ursache neuen Karmas zu werten. Es mag sein, dass die sexuellen Beziehungen zwischen Ehepaaren Formen annehmen können, die neues Karma schaffen können. Das berechtigt uns aber nicht zu der Annahme, dass ihr gesamtes Sexualleben karmabildend ist, da es ja zumindest teilweise dazu bestimmt ist, altes Karma abzubauen. Ich komme später noch einmal auf diesen Punkt zurück. Zuvor möchte ich einen weiteren Aspekt der Fleisches- oder Sinnenlust besprechen.

Vorsicht vor Begehrlichkeit

Es gibt nämlich innerhalb des menschlichen Verhaltens noch andere Arten sinnenhafter Beziehungen zu berücksichtigen. Jesus Christus erklärt: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Du sollst nicht ehebrechen.‘ Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau begehrlich anblickt, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen.“ (Matthäus 5.27–28) Diese Art von Ehebruch erfolgt also in Gedanken. Wenn wir unser gesamtes bisheriges Verhalten in dieser Welt betrachten und uns klarmachen, dass schon begehrliches Anblicken eine Form von Sinneslust ist, dann bedeutet dies, dass wir uns auch von dieser Spielart der Leidenschaft befreien müssen.

Es gibt noch andere Arten von Begehrlichkeit. Mit neidvollem Herzen auf den Besitz anderer Leute zu schielen, zählt ebenso dazu wie das Bestreben, andere durch Täuschung in Worten oder Werken um ihren Besitz zu bringen. Auch wer aus Selbstsucht mit unlauteren Mitteln Anspruch auf fremdes Eigentum erhebt, handelt begehrlich. Dasselbe gilt für ungenügsame Menschen, die nicht mit dem zufrieden sind, was sie haben. 

Im Römerbrief des Paulus finden wir den anfangs erörterten Ausspruch wieder, wenn auch in anderen Worten: „Wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben…“ (Römer 8.13) Wann immer wir der Sinnesfreude frönen, wann immer unser Denken und Streben in eine „fleischliche“ oder materialistische Richtung gehen, gerät unsere Seele in Bedrängnis. Wie können wir uns retten? Paulus fährt fort: „Wenn ihr aber mit dem Geist die Werke des Fleisches abstellt, werdet ihr leben.“ Dies zeigt uns den Ausweg: wir leben in dieser Welt und tun, was immer wir zu tun haben, jedoch stets mit Blick auf den Geist, indem wir an spirituelle Dinge denken. 

Es ist meiner Meinung nach nicht möglich, Handlungen, deren Zweck es ist, früheres Karma zu beenden, von solchen zu unterscheiden, die neues Karma schaffen. Eine Tat, die nach vorherrschenden Glaubenssätzen und Lehrmeinungen Sünde ist, kann nämlich ein notwendiges Mittel sein, um ein früheres Karma aufzuarbeiten. Ich halte es daher für das Beste, sich nicht erst lange mit Überlegungen über Dogmen und Doktrinen abzugeben, sondern sich direkt an Gott in unserem eigenen Innern zu wenden und uns von Ihm, von Seinen manifesten Offenbarungen, in unserem Handeln leiten zu lassen. Auf diese Weise schließen wir nicht nur unsere früheren Karmas ab, sondern beugen auch der Entstehung neuer sinnlicher Eindrücke vor. 

Memento mori

Zum Abschluss komme ich auf das Thema des ehelichen Sexuallebens im Zusammenhang mit dem spirituellen Weg zurück. Dazu möchte ich wieder eine Lehrgeschichte erzählen:

Ein König fragte einst seinen Priester: „Wie bringt man die Menschen dazu, den Weg zu Gott einzuschlagen?“ Der Priester antwortete: „Indem man sie an den Tod erinnert.“ Der König konnte diese Antwort nicht vorbehaltlos akzeptieren. Daher dachte er sich einen Plan aus, um ihre Richtigkeit zu überprüfen: Er lud einen einfachen Mann zu sich in den Palast und sagte zu ihm: „Fühl dich hier wie zu Hause. Du kannst machen, was du willst, und alles essen, was dir schmeckt. Alle Räume meines Palastes stehen dir offen. Amüsiere dich also nach Herzenslust!“ Dem Mann gefiel dieses Leben nicht schlecht, zumal er abgesehen vom Essen und seinen diversen Vergnügungen keinen Finger zu rühren brauchte.

Doch eines Tages trat er vor den König und sagte: „Ich habe Verlangen nach meiner Frau und bitte dich um die Erlaubnis, sie zu mir in den Palast zu holen.“ Der König willigte ein, die Frau kann, und der König trug ihr auf, die Nacht bei ihrem Mann zu verbringen. Zu diesem aber sagte er: „Heute ist dein letzter Tag auf Erden. Genieße also die Nacht mit deiner Frau in vollen Zügen, denn morgen früh wirst du hingerichtet.“

Am nächsten Morgen fragte der König die Frau, ob sie und ihr Mann eine schöne Nacht miteinander verlebt hätten. Da klagte sie: „Ach wo, er brachte kein einziges Wort über die Lippen! Die ganze Nacht lang haderte er mit seinem Tod. Ich flehte ihn an: ‚Du hast mich zu deinem Vergnügen und deiner Unterhaltung kommen lassen, also schweig mich nicht so an!‘ Aber er schüttelte nur den Kopf und sagte: ‚Du hast nur deinen Spaß im Kopf – ich denke immerfort an den Tod.‘“

Wenn wir uns vor Augen halten, wie schnell unsere Lebenszeit verrinnt, und uns bewusst machen, dass wir eine Aufgabe zu erfüllen und uns um das Ziel unseres Lebens zu kümmern haben, dann bleiben wir vor ehelichen Exzessen und sinnlichen Verstrickungen bewahrt.

Meditation ist das A und O

Der Ausspruch „Keuschheit ist Leben, Sinnenlust ist Tod“ und ähnliche Formulierungen haben zu vielen leidvollen Missverständnissen geführt. Darum wandele ich ihn folgendermaßen ab: „Gottes Offenbarungen sind Leben, ihre Missachtung ist Tod.“ Wer sich danach richtet, verliert nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern seine Seele gewinnt das Leben. 

Daher möchte ich abschließend folgende Losung ausgeben: „Freut euch des Lebens, aber praktiziert dabei die Meditation.“ Gottes Offenbarungen, die uns in der Meditation zufließen, sind mächtig genug, uns im bewegten Alltag auf dem spirituellen Pfad zu halten. Es besteht also kein Grund, sich von kirchlichen Lehrmeinungen einschüchtern zu lassen; es genügt, aus ganzem Herzen dem Pfad der Meditation zu folgen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein glückliches Leben.

Soami Divyanand (1932–2014), Meister des Surat-Shabd-Yoga, lehrte mehr als 35 Jahre lang den spirituellen Pfad des inneren Lichtes und Klangs. Veden-Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher.

Soami Divyanand

Foto(s): gettyimages

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