
Eine Krankheit, die sich nicht mit den üblichen Mitteln beheben lässt, löst nicht selten die Suche nach einer geistigen Kraftquelle aus, von der man sich Linderung und Heilung erhofft.
Geistheiler finden in unseren Tagen ein stetig wachsendes Interesse, und das nicht einmal vorwiegend bei „einfachen“, weniger gebildeten Menschen, sondern gerade in der städtischen Mittelschicht. Die Gründe für diesen Boom liegen in unserer kopflastigen, wissenschaftsorientierten Zivilisation. Zwar werden die Heilverfahren der Schulmedizin ständig weiter entwickelt, und wohl kaum jemand möchte ernsthaft auf ihre Leistungen verzichten, doch zahlen wir für ihre Errungenschaften einen hohen Preis: Wir lassen einzelne Organe behandeln, ohne dass der Arzt aus zeitlichen und anderen Gründen in der Lage ist, den tieferen Ursachen für unsere Erkrankung nachzuspüren und sie an der Wurzel zu packen. Oft muss er sich bei einer durchschnittlichen Konsultationszeit von nur wenigen Minuten pro Patient darauf beschränken, ein Mittel zu verschreiben, das wohl die Beschwerden lindern kann, aber gleichzeitig unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt, und dies oft selbst dann, wenn er weiß, dass dem Patienten sehr viel mehr geholfen wäre, wenn er zum einen seine Lebensweise und zum anderen sein Verhalten ändern würde. Immer mehr Ärzte öffnen sich deshalb heute der sogenannten alternativen Medizin, beziehen sie entweder selbst in ihre eigene Praxis ein oder verweisen manche ihrer Patienten an die entsprechenden Therapeuten.
Krankheit ganzheitlich betrachten
Aber auch die Kranken selbst erkennen mehr als je zuvor, dass sie ihren Körper mit seinen Krankheitssymptomen nicht isoliert wie einen Mechanismus betrachten dürfen, der rein physikalischen Gesetzen gehorcht, sondern ihn wie ein sensibles Instrument behandeln sollten, das auf die feinsten Signale reagiert, ob sie nun aus dem physisch-materiellen Bereich stammen oder aus Verstand, Gefühl und Geist. Eine Krankheit, die sich nicht gleich mit Tabletten in den Griff bekommen lässt, zwingt uns, tiefer und kritischer über unser Leben nachzudenken und womöglich im geistigen Bereich Heilung für unser Leiden zu suchen. Nicht selten ist eine ernste Erkrankung der Auslöser für die Suche nach einer geistigen Kraftquelle, von der man sich Erleichterung oder Befreiung erhofft. Diese Hoffnung beschränkt sich aber nicht auf das physische Leiden, sondern schließt auch den psychischen Bereich mit ein, seien es nun Ängste und Konflikte in Familie und Beruf, oder die widerstreitenden Antriebskräfte, die im eigenen Inneren wirksam sind. So gesehen wird eine Krankheit dort zum Segen, wo sie den Betroffenen dazu zwingt, von seiner hektischen Betriebsamkeit oder auch seinem bequemen Sichtreiben-Lassen Abstand zu nehmen, sein Leben bewusst zu steuern und einem höheren Zweck zu widmen.
Krankheit und Schicksal
Wenn Krankheit mehr ist als eine körperliche Erscheinung, so gilt dies nicht nur im psychosomatischen, sondern auch im spirituellen Sinne. Krankheit entsteht im Wechselspiel von Ursache und Wirkung und trifft uns nach dem Gesetz des Karmas als Rückwirkung unseres eigenen Handelns. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Handlungen aus unserem jetzigen Leben stammen oder aus einem unserer zahllosen früheren Lebensläufe. Aus höherer Sicht ist jede Krankheit, einschließlich der Faktoren, die sie ausgelöst haben, nur eine logische Konsequenz und in jedem Fall „verdient“ und gerecht. Dies einzusehen und die Verantwortung für seine Krankheit zu akzeptieren, ermöglicht dem Betroffenen, Verbitterung und Groll loszulassen und Frieden mit seinem Schicksal zu schließen. Er kann aufhören, die „Täter“ zu hassen, die ihm sein Leiden zugefügt haben: den Arzt, der ihm durch einen Kunstfehler eine Behinderung „eingebrockt“ hat; den Unfallfahrer, der seine Verletzung „auf dem Gewissen hat“; das gefühlskalte Elternhaus, das ihn seelisch verkrüppelt und so seine psychosomatischen Beschwerden verursacht hat; oder auch den „grausamen Gott“, der ihm dieses Unrecht zumutet. Die Annahme der eigenen Verantwortung kann einen Kranken befähigen, sein Schicksal mit Würde und Gelassenheit zu ertragen, statt durch Hass und Rachegedanken das Rad des Karmas von neuem gegen sich zu wenden.
Da Krankheit nun Schicksal bzw. Karma ist, muss man sie dann fatalistisch hinnehmen und resignieren? Keineswegs, denn Tatenlosigkeit ist nie die richtige Antwort auf eine karmische Herausforderung. Wer sein Leben als Teil einer langen Reihe von Inkarnationen mit all ihren Verstrickungen versteht, wird dort aktiv werden und handeln, wo sein Handeln gefordert ist. Er wird dies jedoch mit Bedacht und einem gewissen Gleichmut tun, da er die Ergebnisse seiner Bemühungen Gott überlässt, der allein das ganze karmische Netzwerk überblickt und in Händen hält. Genau diese Haltung, die grundsätzlich in jeder Lebenslage hilfreich ist, wird auch in Bezug auf Krankheit angeraten: Nehmen wir an, der Arzt eröffnet uns, dass wir ernsthaft erkrankt sind, dann wird er uns in den meisten Fällen zugleich verschiedene Behandlungsmöglichkeiten vorschlagen. Nun wissen wir zwar, dass wir krank sind, und befolgen die vom Arzt vorgesehene Therapie, aber wir wissen nicht, ob unser Schicksal vorsieht, dass wir uns unser Leben lang mit dieser Erkrankung quälen müssen, oder ob wir sie nur für eine begrenzte Zeit erleiden müssen und dann von ihr geheilt werden.
Die Kraft der Selbstheilung nutzen
Wenn Gott auch im Universum Gerechtigkeit walten lassen muss, so ist er doch barmherzig und richtet es so ein, dass unsere guten und schlechten Karmas auf eine Weise gemischt und verteilt werden, dass sich gute und schlechte Zeiten in unserem Leben abwechseln und wir die schlechten auch ertragen können. So überwiegen Erkrankungen, die geheilt werden können, bei weitem. Zu diesem Zweck hat Gott unserem Körper eine Selbstheilungskraft mitgegeben, die uns im Krankheitsfall oft ohne jede Therapie wiederherstellt. Die meisten Ärzte erkennen diese körpereigene Heilkraft an und sehen ihre Aufgabe in deren Unterstützung oder Stärkung, was sowohl vorbeugend als auch heilend geschehen kann. Diese gottgegebene Heilkraft nicht zu nutzen hieße, mit dem uns anvertrauten Gut des menschlichen Körpers nachlässig umzugehen. Das gilt auch für die Heilverfahren, die sie in ihrer Wirkung unterstützen. Auch wenn kein anderer Weg bleibt als eine Operation oder ähnlich drastische Therapien wie eine Bestrahlung oder Chemotherapie, die möglicherweise auch gesunde Körpersubstanz in Mitleidenschaft zieht, ist von solchen Verfahren aus spiritueller Sicht keineswegs abzuraten. Es kann durchaus sein, dass eben dieses schmerzhafte Verfahren Teil der karmischen Last ist, ohne deren Abbau keine Rückkehr zu einem gesunden, normalen Leben möglich ist. Die moderne Medizin ist ein Teil unserer Lebensbedingungen und insofern ein Teil des Schicksalsplans. Krankheiten geben übrigens nicht nur dem Patienten Gelegenheit, karmische Schulden zu begleichen, sondern auch anderen Beteiligten wie Ärzten oder Apothekern. Denn zu den karmischen Bedingungen einer Krankheit gehört nicht nur die Erkrankung selbst, sondern auch der medizinische Rat, den man deswegen einholt, und die ärztliche Behandlung, die durch sie erforderlich wird.
Heilquelle Lebensenergie
Das Gesetz, nach dem jeder erntet, was er gesät hat, wirkt in allem, was uns widerfährt, und Gott ist der Garant für diese ausgleichende Gerechtigkeit. Gott ist aber auch die Quelle allen Lebens: Er erschuf aus seiner eigenen spirituellen Substanz die Seelen als quicklebendige, bewusste Wesen. In seiner ruhenden, absoluten Form ist Gott für den Menschen nicht fassbar. Aber in seiner aktiv wirkenden, sich verströmenden Form wird er für die menschliche Seele, die sich ihm in der Meditation zuwendet, als spirituelles Licht und spiritueller Klang wahrnehmbar. Dieser göttliche Licht- und Klangstrom wirkt mit seiner endlosen Vielfalt an Offenbarungsformen in der ganzen Schöpfung und spendet allen Lebewesen ihre Lebensenergie. Ja, er ist der Lebensstrom unserer eigenen Seele, und die aktive Rückverbindung mit ihm in der Meditation ist die Quelle von Heilung auf allen Ebenen unserer Existenz.
Bei regelmäßiger Meditation erlebt der Praktizierende, wie dieser Strom ihn mit einer bis dahin unbekannten Kraft erfüllt, die zuerst seine Seele bzw. sein Bewusstsein stärkt, dann aber auch seine mentalen Kräfte und nicht zuletzt seinen Körper. Da dieser Strom die Urenergie darstellt, aus der die feinsten Teilchen der materiellen Schöpfung hervorgegangen sind, birgt er auch die Möglichkeit, lebendige organische Materie zu beeinflussen und zu verändern, also auch die innerste Struktur unseres Körpers. Sein Einfluss ist immer nur positiv, weil er göttlicher Natur ist und dazu dient, dem Menschen die göttlichen Eigenschaften zu vermitteln, wie z. B. Liebe, Barmherzigkeit und Seligkeit.
Ein umfassendes Heilverfahren
Hier geht es also im Kern nicht um Heilen im landläufigen Sinne, sondern um die Quelle der Heilkraft in uns selbst, die nicht nur das Symptom der Krankheit beseitigt, sondern auch deren Ursache im karmischen Bereich ausräumt. Dieses „Heilverfahren“ setzt tiefer an der Wurzel an als irgendein anderes. Da es ein rein geistiges Verfahren ist, beeinflusst es den Menschen stets vom Geist her; es „behandelt“ ihn stets von der höchsten Seinsstufe, von der Ebene der Seele, her und schließt von dorther die jeweils niederen Ebenen, Gemüt und Körper, ein. Die göttlichen Manifestationen als spirituelles Licht und spiritueller Klang heilen zuallererst die Seele, indem sie sie von ihrer schwersten „Krankheit“ befreien, der Illusion der sterblichen Existenz. Dann erst befreien sie über die Seele auch Gemüt und Körper von ihren Leiden. Heilen durch den Geist bedeutet daher „Heilen durch Gott“, und diese Heilung ist das tiefgreifendste und umfassendste Verfahren, das es gibt.
Soami Divyanand
Soami Divyanand (1932 – 2014), Meister des Surat-Shabd-Yoga, lehrte mehr als 35 Jahre lang den spirituellen Pfad des inneren Lichtes und Klangs. Veden-Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher.
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